04.06.2012
Nach 50 Jahren im Wohnheim lebt Herr J. nun in den eigenen vier Wänden
Groß-Gerau.- Ein lautes Quietschen ertönt, wenn die Regionalbahn in den kleinen Bahnhof in Groß- Gerau einfährt. Zuvor noch die laute Durchsage, durch die etwas blechern klingenden Bahnhofslautsprecher: „Achtung Zugbetrieb! Halten Sie Abstand von der Bordsteinkannte und betreten sie nicht den gekennzeichneten Bereich…“. Wir steigen ein. Zielsicher sucht sich Herr J. einen Platz im Abteil. Ich folge ihm. Im Rahmen meiner Berufsausbildung zum Heilerziehungspfleger bekam ich vor einigen Tagen die Gelegenheit, ein etwa fünfwöchiges Praktikum im Betreuten Wohnen der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) in Groß- Gerau zu absolvieren. Hier werden zurzeit zehn Klienten unterstützt, die in ihren eigenen Wohnungen im Kreiß Groß- Gerau leben. Alle Klienten werden, je nach Bedarf und eigenen Wünschen, vom Team des Betreuten Wohnens unterstützt. Nachdem Herr J. rund 50 Jahre einen vollstationären Heimplatz in der NRD hatte, wagte er 2009 den Schritt, in die eigenen vier Wände zu ziehen. Im NRD-Wohnheim in Mörfelden, wo er zuletzt wohnte, hatte er die Möglichkeit, sich auf das Leben in einer eigenen Wohnung vorzubereiten. Seit über zwei Jahren wohnt Herr J. nun bereits in einer kleinen Mietwohnung in Groß-Gerau. „Am Anfang war es noch bisschen schwer. Jetzt komme ich gut zurecht, die Mitarbeiter unterstützen mich“, sagt er.
Unterstützt haben ihn die Mitarbeiter des betreuten Wohnens auch dabei, Anfang 2012 nach über 50 Jahren wieder in Kontakt mit seiner Mutter zu kommen. Beide genießen es, sich jetzt wieder regelmäßig zu sehen. J’s. größtes Ziel ist es zurzeit, die Bahnfahrt zu seiner Mutter selbständig zu bewältigen.
Eine meiner Aufgaben als Praktikant ist es, Herrn J. auf der Bahnfahrt in das Altenwohnheim zu begleiten. Die vielen Züge, das Umsteigen, die verschiedenen Aufgänge am Hauptbahnhof und schließlich der Weg in das Altenwohnheim stellten anfangs eine große Herausforderung für ihn dar. Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Herr J. war fest entschlossen, den Weg einmal alleine zurücklegen zu können und ich bin guter Dinge, dass ihm dies bald gelingen wird. Ein bebilderter Fahrplan (gibt es den bei der bahn oder wurde er mit den Mitteln von UKom selbst hergestellt, das wäre noch interessant) hilft ihm, sollte er sich bei einer Abzweigung seines Weges einmal unsicher sein. Wir treten durch die große Eingangstür des Pflegeheimes, melden uns bei einer Pflegerin an und gehen gemeinsam zur Zimmertür am Ende des Ganges. Wir klopfen an und treten ein. Nach einer freundlichen Begrüßung fragen wir die 77-Jährige: „Wollen Sie heute etwas spazieren gehen?“ Die Antwort kommt sogleich: „Ja klar, ich freu mich immer wenn ich raus komme“. Herr J. holt derweil den Rollstuhl aus dem Badezimmer und schiebt ihn neben das Bett seiner Mutter. Sie packt ihre Handtasche, und wir gehen gemeinsam in den Stadtpark, wo wir uns auf einer Bank niederlassen. Mutter und Sohn schweigen eine Weile und schauen zufrieden dem Treiben der Menge zu.
Später auf dem Rückweg schiebt Herr J. den Rollstuhl seiner Mutter zielsicher zurück und verabschiedet sich: „Bis bald. Es dauert nicht mehr lang, dann schaffe ich den Weg zu dir ganz allein“.
Manuel Meffert
Menschen mit Behinderung brauchen Ihre Hilfe!
© Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie
Bodelschwinghweg 5 - 64367 Mühltal - Tel.: (06151) 149-0 - Fax: (06151) 144117 - E-Mail: info@nrd.de