26.09.2017
Mühltal. - Unter der Überschrift "Die letzte Fahrt" erinnert die NRD mit einer Ausstellung der Gedenkstätte Hadamar und eigenen Rechercheergebnissen an die Opfer der NS-Euthanasie.
„Die letzte Fahrt – Erinnerung an die Opfer der NS-Euthanasie“ war das Thema einer NRD-Veranstaltung im Rahmen der „Tage der seelischen Gesundheit“ 2017. Rund 100 Interessierte fanden sich am 21. September in der Lazaruskirche der NRD ein, hörten kurze Vorträge, studierten Biografien von ehemaligen Bewohnern und nahmen an einer Andacht mit Musik teil. „Dass die NS-Zeit in der Versenkung verschwinden soll – das fordert vielleicht die AfD und das wünschen sich auch viele ältere Bürger“, sagte Peter Germann aus Bensheim, der das Schicksal seines Onkel Ludwig Germann aufgearbeitet hat, „junge Menschen denken da Gott sei Dank anders. Sie fragen nach und es interessiert sie, was damals geschehen ist.“
Martin Michel, Leiter des Betreuten Wohnens der NRD im Landkreis Darmstadt-Dieburg, begrüßte die Gäste – unter ihnen auch etliche NRD-Mitarbeitende und Menschen mit Behinderung – und machte die Aktualität der Veranstaltung deutlich: „Wer von uns ist denn wirklich bereit, einen Menschen mit psychischer oder geistiger Behinderung zum Nachbarn zu haben?“ fragt er und beklagte auch mangelndes Mitgefühl am Schicksal von Flüchtlingen und Kriegsopfern in aller Welt.
Claudia Schaaf, Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar, berichtete über die Systematik der Vernichtung von behinderten Menschen in Hadamar, einer von sechs Tötungsanstalten des Dritten Reichs, in der auch Kranke, kriegsversehrte Soldaten und Zwangsarbeiter getötet wurden. Insgesamt 300.000 Menschen in ganz Europa wurden zwischen 1941 und 1945 im Rahmen der NS-Euthanasie ermordet, in Hadamar waren es rund 15.000. Mit einem geheimen Schreiben ermächtigte Adolf Hitler im Jahr 1939 einzelne Ärzte dazu, das Euthanasie-Programm durchzuführen und „unheilbar kranken“ den Gnadentod zu gewähren.
Nur Arbeitsfähigkeit zählte
Durch Fragebögen an alle Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke wurde ab 1939 der Personenkreis erfasst. Vor allem die Arbeitsfähigkeit der Einzelnen spielte dabei eine wichtige Rolle. Ärzte in der Tiergartenstraße 4 – nach dieser Adresse wurde die Aktion als „Aktion T-4“ genannt – entschieden dann über Leben oder Tod der Menschen. Nach und nach wurden die Heimbewohner aus kirchlichen Einrichtungen in staatliche Institutionen verlegt und gelangten dann – oft über sogenannte „Zwischenanstalten“ in die Tötungsanstalten, wo sie in der Regel am Tag ihres Eintreffens ermordet wurden. Transportiert wurden die Opfer in den grauen Bussen der sogenannten „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat).
„Warum hat man denn die Menschen, die nicht mehr arbeiten konnten, nicht in Rente geschickt? Wieso wurden sie umgebracht?“ Diese Frage stellte anschließend der NRD-Bewohner Tassilo Wirth, der dem Vortrag aufmerksam gefolgt war. Sprachlos reagierte er auf die erneute Erklärung, dass behinderte Menschen damals aufgrund ihrer Beeinträchtigung als „unwertes Leben“ und „nutzlose Esser“ galten, und dass man auch das Pflegepersonal, welches sich in den Einrichtungen um die Menschen kümmerte, einsparen bzw. für kriegsbedingte Zwecken (Einsätze in Lazaretten und Krankenhäusern) nutzen wollte.
Peter Germann, 82, hat das Schicksal seines Onkels Ludwig Germann (1906 bis 1941) erforscht, der in Nieder-Beerbach lebte und in der Pubertät eine Epilepsie entwickelte. Die Eltern vertrauten ihn 1925 den Nieder-Ramstädter Anstalten in nächster Nähe zu ihrem Wohnort an: „Die Einrichtung hieß ja ‚Anstalt für Epileptische“ und bei einem diakonischen Träger glaubte man den Sohn gut aufgehoben“, sagte Peter Germann. 1938 wurde Ludwig Germann in die Heilanstalt Goddelau verlegt, von wo er seinen Eltern schrieb: „Wir bekommen kaum etwas zu essen. Die lassen uns hier systematisch verhungern“. Im April 1941 wurde Ludwig Germann nach Weilmünster verlegt, wo die Familie ihn nicht mehr besuchen durfte. Er war bereits für den Transport nach Hadamar gelistet, starb aber am 15. Mai noch in Weilmünster. Sehr viele Menschen sind wie Germann in den Zwischenanstalten aufgrund von Hunger, schlechter Hygiene oder der Überdosierung von Medikamenten gestorben.
Dank an die NRD
Peter Germann hat der Aufarbeitung dieses Schicksals über zehn Jahre gewidmet und wurde dabei auch von der NRD-Pressereferentin Marlene Broeckers unterstützt. Im NRD-Magazin 3/2015 ist ein Bericht darüber zu finden, der auch in der Evangelischen Sonntagszeitung Frankfurt nachgedruckt wurde. Peter Germann und seine Familie bedankten sich bei der NRD für diese Publikation und für die Gedenk-veranstaltung. Germanns Schwester sagte: „Das hat uns geholfen, unseren Onkel in unsere Mitte zu holen. Früher lag immer ein Schleier über ihm, jetzt ist er da!“
Mit einer Andacht, belgleitet von Hermann Bollmann an Klavier und Orgel, erinnerte Beate Braner-Möhl (Stabsstelle Diakonie der NRD) an die Opfer. Sie stellte den biblischen Psalm 8 der abscheulichen Wirklichkeit der NS-Zeit entgegen: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! (…) Was ist der Mensch (…)? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“
Rund 100 Interessierte kamen am 21. September 2017 zur Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Euthanasie in die Lazarkuskirche Nieder-Ramstadt. Die Veranstaltung fand statt im Rahmen der „Tage der seelischen Gesundheit“ im Landreis Darmstadt-Dieburg.
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