29.09.2021
Im künftigen Nieder-Ramstädter Wohngebiet Dornberg wird es drei Straßen geben, die die Namen ehemaliger Bewohner*innen der NRD tragen. Elsa Eislöffel, Ludwig Germann sowie die Geschwister Katharina und Friedrich Lorey sollen stellvertretend für 450 vom Naziregime ermordeten Menschen stehen, die hier lebten. Ihre Geschichten sind nicht in Vergessenheit geraten.
Verdrängen Menschen die
Gräueltaten des NS-Regimes, sprechen Hirnforscher von „aktivem Vergessen“. „Wer
vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen“, sagte der
Philosoph Thomas Stearns Eliot. Die NRD will zukunftsfähig bleiben und setzt
sich gerade deshalb seit langem kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander.
Und die ist bewegt.
Erst als „Anstalt für Epileptische in Hessen“, seit 1936
umbenannt in „Nieder- Ramstädter Heime“ blickt die NRD heute auf eine
122-jährige Geschichte zurück. In der Diktatur des Nationalsozialismus sind
nachweislich 450 Menschen mit Behinderung aus den „Nieder-Ramstädter Heimen“ in
Tötungsanstalten wie der Landesheilanstalt Hadamar umgebracht worden. „Mit der
Ermordung dieser Menschen erlebte die Einrichtung eine Zäsur, die niemals in
Vergessenheit geraten wird. Die Geschichte der NRD spiegelt Geschichten von
Menschen. Sie erzählt von Freude und Angst, Tod und Trauer, Liebe und Hass,
Hoffnung und Enttäuschung“, liest man im 2014 erschienenen NRD-Buch „Aussortiert
– Leben außerhalb der Gesellschaft“. „Wir kümmern uns schon lange um die
Aufarbeitung“, sagt Vorständin Brigitte Walz-Kelbel. Unter anderem wurde im
Jahr 2000 gegen das Vergessen das steinerne Denkmal eines aufgeschlagenen,
umgelegten Buches gegenüber der Lazaruskirche eingeweiht. Die Benennung der
drei Straßen nach ermordeten Bewohner*innen im künftigen Wohngebiet Dornberg
ist ein weiteres, sichtbares Zeichen dieser Auseinandersetzung mit der
Geschichte.
Das Wohngebiet Dornberg
Der Regionalisierungsbeschluss des NRD-Stiftungsrates vor 16 Jahren gab das Signal für den Umbau des Zentralgeländes und bezeichnete damit die Geburtsstunde des aktuell entstehenden Wohngebiets. Der städtebauliche Entwurf für das neue Wohngebiet entstand 2016 – nach vielen Diskussionen war der Bebauungsplan dann Anfang dieses Jahres endlich unter Dach und Fach.
Am 23. Juni 2021 feierte man
mit einem symbolischen Spatenstich den Baubeginn der neuen Erschließungsstraße,
die das künftige Wohngebiet mit dem öffentlichen Straßennetz Nieder-Ramstadts verbinden
wird. Der NRD-Vorstand sprach dabei von einem „Meilenstein auf dem Weg vom
ehemaligen Heimgelände zu einem modernen und inklusiven Wohngebiet“. Und
Bürgermeister Willi Muth hob hervor: „Wenn die Infrastruktur steht, wird die
Gemeinde mit ihrer Kindertagesstätte den ersten Neubau auf dem Gelände
errichten. Hier entsteht ein hochattraktives Wohnquartier, von dem in unserem
Ballungsgebiet viele wohnraumsuchende Bürger, die Gemeinde und die NRD
gleichermaßen profitieren. Eine ausgesprochen einmalige Win–Win Situation und
ein Glücksfall für unsere Gemeinde Mühltal.“
Geschichten, die erzählt werden wollen
Neue Wohngebiete brauchen neue
Straßen, neue Straßen brauchen Namen. Der Vorschlag der Gemeinde Mühltal, sie
in Anlehnung an alte geografische Bezeichnungen „Am Engelspfad“, „Am Lazaruspark“
und „Am Dornberg“ zu nennen, stieß in der NRD auf Akzeptanz. Dann entstand aber
die Idee, die Straßen nach ehemaligen Bewohner*innen zu benennen: Ein starkes
Symbol, das einen konkreten Zugang zum damaligen Geschehen bietet. Die
Geschichten wollen erzählt werden, sie gehören zur NRD und zur Gemeinde
Mühltal.
Also machte sich die NRD auf die Suche nach Namen, die der nackten
Zahl 450 ein Gesicht geben sollten. „Uns war es auch wichtig, dass Frauen unter
den Vorschlägen sind“, sagt NRD-Archiv-Leiterin Marion Eisele, „denn es gibt
eindeutig zu wenig Straßennamen, die nach
Frauen benannt sind.“ Nachdem man sich NRD intern für „Elsa-Eislöffel-Weg“, „Ludwig-
Germann-Weg“ und „Geschwister-Lorey- Weg“ entschieden hatte, stand Marion Eisele
vor der nächsten Herausforderung: Die vorliegenden Akten dokumentieren nur die
Zeit, die diese Bewohner*innen in der NRD verbrachten. Da aber deren gesamtes Leben
von Interesse ist, forderte Marion Eisele zusätzliche Dokumente beim
Landeswohlfahrtsverband an, fragte im Zentralarchiv der EKHN Darmstadt nach,
recherchierte beim Landesarchiv in Darmstadt, fragte bei Verwandten der Verstorbenen
nach, wälzte Bücher. Es sei keine einfache Recherche gewesen, da im Krieg viel
verloren ging oder zerstört wurde. Aus der Menge der Informationen konnte
Marion Eisele aber nach und nach das Leben der Vier nachzeichnen.
Ludwig Germanns Neffe Peter Germann aus Bensheim, heute 86, suchte im Jahr 2005 zum ersten Mal den Kontakt zur NRD. Er erforscht seit 1985 das Schicksal seines Onkels. Der wurde 1906 als gesunder und kluger Junge in Nieder-Beerbach geboren. „Das ist das Berührende an seiner Geschichte: Ludwig Germann stammt hier aus der direkten Umgebung, einem Ortsteil von Mühltal, er gehört gleichermaßen zur Geschichte der Gemeinde Mühltal und zur Geschichte der NRD“, sagt Marion Eisele. Mit zwölf Jahren traten bei ihm erstmals epileptische Anfälle auf, die sich im Laufe seiner Pubertät so sehr verstärkten, dass Ludwig seine Schuhmacher-Lehre nicht beenden konnte. Seine Eltern entschieden sich, ihren Sohn in die Obhut der nahe gelegenen „Nieder- Ramstädter Anstalten“ zu geben. Er gehörte zu den ersten Bewohnern, die 1938 in staatliche Anstalten abtransportiert wurden. Zunächst kam er nach Goddelau, 1941 wurde er nach Weilmünster verlegt, rund 90 Kilometer weg von Nieder-Ramstadt. Dort starb er vier Wochen nach seiner Ankunft, vermutlich an Unterernährung. „Nur Hadamar blieb ihm erspart“, sagt sein Neffe Peter. Ludwig Germann verstarb 34-jährig. Er wurde in einem Massengrab beerdigt.
Bei der Durchforstung sämtlicher Original-Akten und der „Transportlisten“ stieß Marion Eisele auf Elsa Eislöffel, deren Großneffe Matthias Eislöffel die NRD persönlich kennt. Elsa Eislöffel ist als nichteheliches Kind am 21. Oktober 1924 linksseitig gelähmt und taubstumm zur Welt gekommen. Im Mai 1931 kam sie vom Offenbacher „Versorgungshaus“ in eine Einrichtung für geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Ab 1933 war das Städtische Wohlfahrts- und Jugendamt für Elsa zuständig. Die Akten halten fest, Elsa Eislöffel sei ein „fröhliches und braves Kind“ gewesen, „folgsam und anhänglich“. Im November 1933 kam sie in die Nieder-Ramstädter Anstalten, im Mai 1938 dann in die Heilanstalt nach Gießen – und damit in das Euthanasie-Programm. Im Februar 1941 wurde sie in die „Zwischenanstalt“ Weilmünster verlegt. Nach Informationen der Gedenkstätte Hadamar kam Elsa am 20. März 1941 nach Hadamar. Die dortige Gedenkstätte teilt mit, dass das vermutlich auch ihr Todestag war, „da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet wurden.“ Elsa Eislöffel wurde 16 Jahre alt.
Die Geschwister Friedrich (1903 - 1940) und Katharina (1908 - 1941) Lorey aus Steinbach im Taunus wurden 1935 mit der Diagnose „Idiotie“ zusammen in die „Nieder-Ramstädter Anstalten“ aufgenommen. Beide wurden im Mai 1938 im Abstand von einer Woche in die Heil- und Pflegeanstalt Gießen verlegt. Friedrich verstarb dort 1940 im Alter von 36 Jahren, Katharina knapp ein Jahr später 1941 mit 32 Jahren in Hadamar. Die NRD erkundigte sich in Steinbach nach noch lebenden Nachfahren. Dabei kam heraus, dass sich der dortige „Verein für Geschichte und Heimatkunde“ zufälligerweise ebenso mit den beiden Lorey-Geschwistern beschäftigt. Seitdem arbeitet man zusammen, um möglicherweise Lücken in der Dokumentation des Geschwisterpaares zu schließen.
Erst Wechselbad, dann stattgegeben
In
einem Ausschuss der Gemeindevertretung Mühltal erläuterte NRD-Vorstand Christian
Fuhrmann im Juni dieses Jahres die Beweggründe und die Lebensgeschichten der
Personen hinter den Straßennamen. Auch Gegenargumente wurden angesprochen:
Wollen Menschen in einer Straße wohnen, die nach jemandem mit derart schlimmem
Schicksal benannt ist? Letztendlich entschied der Ausschuss mehrheitlich
zugunsten des Vorschlags und überwies ihn an das Plenum der Gemeindevertretung.
„Ab diesem Zeitpunkt hatte ich ein gutes Gefühl“, sagt Marion Eisele. Ihr
Gefühl täuschte sie nicht: Zwei Wochen später wurden die Straßennamen dann mit
einer großen Mehrheit beschlossen.
„Ich spüre diese Anspannung immer noch ein
bisschen“, beschreibt Marion Eisele ihre Gefühle, die emotional derart in die ganze
Angelegenheit involviert war, dass sie mitunter schlaflose Nächte wegen der grausam
endenden Lebensgeschichten der ausgewählten Menschen hatte. „Ich finde es
einfach toll von der Gemeinde Mühltal, dass sie unsere Idee aufgegriffen und in
die Tat umgesetzt hat“.
Die Planstraßen auf dem Dornberg werden in den nächsten
Jahren nach und nach fertiggestellt. Marion Eisele denkt an Informationsabende
zu deren Benennung, um den Mühltaler*innen die Geschichten hinter den Namen zu
erzählen. Zur Einweihung der drei Straßen will sie Angehörige von Elsa, Ludwig,
Katharina und Friedrich einladen. Die Geschichten der Namensgeber*innen sollen
würdig erzählt werden, damit ihre Schicksale nicht in Vergessenheit geraten.
Menschen mit Behinderung brauchen Ihre Hilfe!
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