Ganz normal, nur ein bisschen anders

22.11.2024

Ganz normal, nur ein bisschen anders

Die NRD hat in diesen Tagen Grund zum Feiern: Vor fünf Jahren gründete sie die „Ambulante Teilhabe Autisten“, was bis vor kurzem noch „Betreutes Wohnen“ hieß. Was die wenigsten wissen: Mit der Besetzung dieser Nische nimmt sie deutschlandweit eine Führungsrolle ein.

Es ist ein relativ kleiner Bereich im Angebotsportfolio der NRD. Sieben Mitarbeiter*innen betreuen aktuell vierzehn Asperger-Autist*innen. Fünf Jahre ist es her, dass autistische Frauen eine WG im damals Betreuten Wohnen der NRD bezogen. Dem ging eine intensive Vorbereitungszeit voraus: Ab Sommer 2018 besuchte das NRD-Team die vier Frauen mit einer Asperger-Diagnose daheim bei deren Eltern. Man lernte sich kennen und erklärte, was es bedeutet, auf eigenen Füßen zu stehen. „Das Wichtigste ist, Vertrauen zu den Menschen aufzubauen“, erklärt Teamleiterin Ute Peemöller. Elternabende wurden veranstaltet, gemeinsam erkundeten sie ihre künftige Umgebung, man lief vom örtlichen Bäcker zum Metzger, zum Arzt, zum Supermarkt. „Irgendwann hatten wir das Gefühl: Ja, das kann was werden“, so die Teamleiterin.

Autismus wird laut dem Klassifikationssystem ICD-10 als Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems angesehen und diagnostisch in fünf Subgruppen unterteilt. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken. Laut Datenanalyse der Handelskrankenkasse (HKK) wurden am häufigsten Frühkindlicher Autismus (36,8 Prozent) und Asperger-Syndrom (31,9 Prozent) festgestellt.

Quellen: Verband der Ersatzkassen (2023) und Autismus Deutschland e.V.

Im August 2019 war es dann soweit. Die erste betreute „Asperger-Autisten-WG“ wurde offiziell eröffnet. Es ließ sich gut an, die NRD konnte sich vor weiteren Anfragen kaum retten. Ein halbes Jahr später der Schock: Corona brachte das WG-Leben zum Erliegen. Kontaktverbot, die Mitbewohnerinnen gingen in dieser Zeit zurück zu ihren Eltern. Erst im August 2020 belebten sie ihre WG neu. Seitdem kamen weitere WGs hinzu, von Ober-Ramstein über Darmstadt bis Kranichstein unterstützt die NRD heute die insgesamt vierzehn autistischen Menschen, egal, ob im elterlichen Zuhause oder in den eigenen vier Wänden.

Gefragt: Empathie und Verlässlichkeit

Nicht nur, was das Expertenwissen rund um Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) angeht, ist die NRD bestens aufgestellt (siehe Info-Kasten unten). Auch personell kann das NRD-Autisten-Team „Ambulante Teilhabe“ seit fünf Jahren aus dem Vollen schöpfen. „Wir arbeiten immer in sogenannten Tandem-Teams. Denn falls mal eine Bezugsperson ausfällt, kann ein Teammitglied problemlos übernehmen“, skizziert Mitarbeiter Lutz Seitz die Strategie. Und was braucht es, um autistische Menschen bestmöglich begleiten zu können? „Sehr viel Empathie, Gelassenheit, Geduld, viel Verständnis und absolute Verlässlichkeit“, sagt Kollegin Kerstin Mikolajczak. Komme man beispielsweise zu früh oder zu spät zu einem vereinbarten Treffpunkt, könne es „auch mal richtig ungemütlich werden.“ Eine der wichtigsten Aufgaben sei es, Strukturen für die Menschen zu schaffen und sie einzuhalten, erklärt Martina Bayer, Teammitglied der ersten Stunde. Die Arbeit sei erfüllend und mache Spaß, denn eigentlich sei das Leben mit und von Menschen aus dem Autismus-Spektrum „ganz normal, nur eben ein bisschen schräger.“ Ja, das stimme, pflichtet ihr Kollegin Mikolajzak bei, das gemeinsame Leben sei „ganz normal, nur eben ein bisschen anders.“

Hürden und fehlende Akzeptanz

Gerne würde sich das Team personell vergrößern. Was dafür fehlt, ist Wohnraum für Autisten-WGs. Deutschland liege eben „kilometerweit hinter anderen Ländern“, wenn es um die Akzeptanz von Menschen mit Einschränkungen geht. Das NRD-Team erlebt immer wieder, dass viele Vermieter*innen oder Arbeitgeber voreingenommen seien, wenn sie mitbekommen, dass es sich bei dem Bewerber oder der Bewerberin um einen Menschen aus dem Autismus-Spektrum handelt. „Wir halten ständig die Augen auf, was Wohnraum angeht“, sagt Teamleiterin Peemöller – und hofft diesbezüglich auf Tipps und Angebote von „überall her“. Denn: Mehr Wohnraum würde bedeuten, dass sich ihr Team und damit auch der Klient*innen-Kreis endlich vergrößern könne.

Trotz allem Unschönen – das Team attestiert der Gesellschaft eine positive Entwicklung, wenn es um den Umgang mit Menschen im Autismus-Spektrum geht. Das Autismus-Thema sei in den vergangenen Jahren mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Zwar teilt das Umweltbundesamt mit, dass Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland nicht vorliegen. Daten der „Handelskrankenkasse“ (HKK) zeigen aber, dass sich die gemeldeten Autismusfälle – dank „besserer Tests“ – pro Jahr verdoppelt haben. Weitere Gründe sind laut HKK: „Auch wenn grundlegende Arbeiten bereits Anfang und Mitte des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht wurden, so fanden sie erst mit der Übersetzung ins Englische Mitte der 1980er und 1990er Jahre zunehmende Resonanz in breiten ärztlichen und psychotherapeutischen Kreisen.“ Auch in Deutschland sei das Wissen über ASS in Fachkreisen in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen und damit die Voraussetzung und Bereitschaft, entsprechende Diagnosen zu stellen. „Autismus Deutschland e.V. – Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus“ bestätigt: „Insbesondere im Erwachsenenbereich ist (bei der Autismusdiagnostik, d. Red.) mit erheblichen Wartezeiten zu rechen (1-2 Jahre), aktuell (23.07.2024) sind die Wartelisten nahezu überall geschlossen / die Einzugsgebiete regional begrenzt.“

Führungsrolle der NRD

„Früher waren dies Leute nur komisch. Heute sind sie Autisten“, sagt Kerstin Mikolajzak mit einem Augenzwinkern. Die gesteigerte Nachfrage nach Unterstützung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum erfährt die NRD seit langer Zeit. Deswegen hat sie zusätzlich seit fünf Jahren das Betreute Wohnen für Autisten im Angebot – und besetzt damit erfolgreich eine Nische. „Soviel ich weiß, bietet das kein andere Institution für Menschen aus dem Autismus-Spektrum an“, sagt Teamleiterin Ute Peermöller, die ein bundesweites Netzwerk pflegt. „Die NRD nimmt damit eine Führungsrolle im Betreuten Wohnen für Autisten ein.“ Die Arbeit des kleinen und eingespielten Autisten-Teams der NRD geht auch künftig unaufgeregt und normal weiter – nur eben ein bisschen anders.

Im Frühjahr 2023 hat die NRD das „Autismus-Kompetenzteam“ gegründet, um ihr über die Jahre angesammeltes Wissen bei Bedarf an alle weiterzugeben. Weiterbildung und Beratung stehen dabei im Fokus der beiden NRD-Experten Andreas Münch (Leitung Teilhabe Mühltal) und Lars Edelbruck (Fachberatung). Angesprochen werden nicht nur alle Interessierte, sondern vor allem Personen, die mit autistischen Menschen arbeiten, wie etwa im Wohn- oder Arbeitskontext. Ebenfalls gehören betroffene autistische Menschen und / oder deren Angehörige zur Zielgruppe des Expertenteams. Auf der Homepage https://autismus.nrd.de/autismus/ erfährt man Genaueres und kann Weiterbildungen buchen. Außerdem hat die NRD den YouTube-Kanal www.youtube.com@spektrumautismus ins Leben gerufen, der regelmäßig neue Inhalte veröffentlicht.

Foto: AdobeStock_26063453_Schulz-Design

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