16.06.2025
Im „umA Biebesheim“ der NRD haben jugendliche Geflüchtete ein neues Zuhause gefunden. Das Kooperationsprojekt feiert diesen Herbst sein zehnjähriges Bestehen – eine echte Erfolgsgeschichte.
In einer ruhigen Wohnstraße im hessischen Biebesheim, im Nebentrakt eines kleinen Hotels, stehen mehrere Mountainbikes vor dem Eingang. Sie gehören den Bewohnern: 18 Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren leben hier – sie stammen aus Afghanistan, Somalia, Äthiopien und der Türkei; geflüchtet vor Krieg, Gewalt und Naturkatastrophen.
Die „umA Biebesheim“ (umA, Abkürzung für: unbegleitete minderjähriges Ausländer*innen) ist nicht nur eine Unterkunft, sondern ein geschützter Ort mit Perspektive. Die jungen Männer bewohnen alle Einzelzimmer mit eigenem Bad. Zwei Küchen, ein Waschraum und zwei Aufenthaltsräume bieten Platz für Gemeinschaft und Rückzug. Gemeinsam gestalten sie ihren Alltag – sie kochen, essen, waschen Wäsche, lernen den Umgang mit Geld und bereiten sich auf ein eigenständiges Leben in Deutschland vor. Denn spätestens mit dem 21. Geburtstag endet ihre Zeit in dieser Einrichtung. Aber auch wenn sie eine eigene Wohnung haben, können sie in der ersten Zeit noch weiter begleitet werden.
Ein offenes Konzept mit viel Freiheit und Verantwortung
Das Betreuungsangebot der NRD basiert auf einem modularen, offenen Wohnkonzept. Es verbindet ambulante Betreuung mit stationären Elementen. Anders als bei klassischen Wohngruppen gibt es hier keine 24/7-Betreuung. Pädagogische Fachkräfte sind in der Regel an sieben Tagen zu unterschiedlichen Zeiten vor Ort, die Gruppe ist jedoch nicht immer besetzt. Der Sicherheitsdienst kontrolliert abends das Gelände – Vorkommnisse hat es bislang kaum gegeben. Aktuell bilden sechs pädagogische Fachkräfte und zwei Hauswirtschaftskräfte das Team. Die Regeln sind klar, aber überschaubar. „Die Absprachen werden eingehalten – das funktioniert wirklich gut“, berichtet die damalige Leiterin Josefine Nilsson Ates.
Eine Pädagogin mit Herzblut
Ich treffe Josefine Nilsson Ates an einem ihrer letzten Arbeitstage. Nach über neun Jahren in der Einrichtung wird sie künftig in anderen Wohngruppen der NRD tätig sein. Ihre Geschichte mit dem Projekt beginnt direkt nach ihrer Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin mit 21 Jahren. Fünf Jahre später hat sie dann die Leitung der Gruppe übernommen.
„Es ist ein Herzensprojekt. Ich bin dankbar für jede Erfahrung und habe auch sehr viel über mich selbst gelernt“, sagt sie. „Am schönsten ist zu sehen, was aus den jungen Männern wird. Wir haben aktuell eine sehr harmonische Gruppe. Es gibt echte Freundschaften – unabhängig von Religion oder Hautfarbe. Ein starkes Wir-Gefühl hat sich entwickelt.“ Dass ihr der Abschied so schwerfallen würde, hätte sie nicht gedacht. Einer der Jugendlichen sagte: „Man merkt, dass du mit dem Herzen arbeitest“. „Ich kann die Medienberichterstattung oft nicht unterschreiben – die jungen Männer erlebe ich als respektvoll, feinfühlig und motiviert.“
Eine Erfolgsgeschichte
Die jungen Männer stehen vor enormen Herausforderungen: Sie lernen eine neue Sprache, müssen sich in ein fremdes Bildungssystem einfinden, sich kulturell orientieren – und all das ohne ihre Familien, oft mit traumatischen Erlebnissen im Gepäck. Doch der Wille, sich zu integrieren, ist groß. „Sie merken schnell, wie wichtig die Sprache für ihr Leben hier ist. Und dann geben sie richtig Gas“, erzählt Josefine Nilsson Ates. Der Erfolg spricht für sich: Viele der ersten Bewohner haben eine Ausbildung begonnen, einige studieren oder haben Studiengänge abgeschlossen.
Auch am Wochenende bietet das Team viele Aktivitäten an: gemeinsames Kochen, Tischtennis, Kickerturniere und Ausflüge; Sport im Verein oder im Fitnessstudio werden von den Jugendlichen selbst finanziert. Einmal im Jahr steht eine Freizeitfahrt an: Kiel, München, Berlin. In der Hauptstadt besuchten die Jugendlichen den Bundestag und hielten im Anschluss eine Präsentation zum Thema Demokratie. Aufklärungsarbeit zu Themen wie Gleichberechtigung und Sexualität übernimmt der Verein pro familia.
Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Stadt Groß-Gerau ist eng und vertrauensvoll. Die Einrichtung versteht sich auch als Ort der Wertevermittlung. „Wir haben viel über Demokratie, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit gesprochen – unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen zu erklären, was diese Werte bedeuten und warum sie wichtig sind“, betont die Leiterin. „Das Frauenbild war nie ein Problem.“
Viele der Jugendlichen sind traumatisiert. Anfangs war Psychotherapie für einige noch ein Tabuthema. „Ich bin doch nicht verrückt“, sagten viele. Doch inzwischen erkennen sie, wie sehr eine Therapie helfen kann. „Wenn wir euch nicht hätten, wären wir nicht da, wo wir heute stehen“, sagen die Jugendlichen dankbar. Worte, die bei Josefine Nilsson Ates Gänsehaut auslösen.
Die Geschichte von Nasir aus Äthiopien
Nasir kam vor viereinhalb Jahren aus Äthiopien in die Einrichtung. Damals war er sehr nervös, sprach kein Deutsch und musste ohne seine Eltern klarkommen. Nur sein Bruder lebt in Langen. „In Äthiopien habe ich die 1. bis 8. Klasse belegt und bei meinem Onkel gearbeitet, der Schweißer ist. In der Gruppe sind nur nette Leute. Sie kommen aus verschiedenen Ländern und sind wie Brüder für mich und die Betreuerinnen sind wie Mütter für mich. So vermisse ich meine Familie nicht mehr so wie am Anfang. Ich wurde in Deutschland bisher immer freundlich behandelt“, erzählt Nasir. Und er selbst ist ein offener und freundlicher junger Mann.
Er lernte Deutsch, besuchte erst eine Schule in Groß-Gerau und dann „Wirtschaft Integriert“ vom Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft – er absolvierte Praktika als Maler, in der Gastronomie und als Lagerist. „Ich interessiere mich sehr für Mode, bemale Jeans und verziere sie mit Siebdruck.“ Auch auf Social Media ist Nasir aktiv: „Ich bin ein TikToker“, sagt er lachend – über 178.000 Follower folgen seinen kreativen Inhalten. In seiner Freizeit tanzt Nasir, hört HipHop und Rap, spielt Fußball oder geht schwimmen. Seine Zukunft hat der aufgeweckte 20-Jährige schon vor Augen: „Ich will Geld verdienen, ein Auto und ein Haus kaufen und eine Familie gründen. Einfach leben“. Und gerne durch Europa reisen. „Eine gute Ausbildung zu finden, am liebsten als Verkäufer, ist mein nächster wichtiger Schritt“. Bevor unser Gespräch endet, lädt er mich noch zum Essen ein – denn Kochen gehört ebenfalls zu seinen Leidenschaften.
Die Träume von Obaidullah aus Afghanistan
Obaidullah ist ein ruhiger, feiner und besonnener junger Mann. Er spricht sehr gutes Deutsch, wählt seine Worte mit Bedacht. Was als kurzes halbstündiges Gespräch geplant war, wird schnell zu einer Stunde – nach und nach beginnt er zu erzählen.
Seit dem 26. Juli 2022 lebt der 20-Jährige Jugendliche in der Einrichtung. Er hat zwei Geschwister und trägt noch heute schwer am Verlust seines Vaters. Obaidullah war beim Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft in Darmstadt und absolvierte dort mehrere Praktika – im Bereich Holz, Metall, Elektro. Anschließend erhielt er ein Zertifikat. Alle Daten kennt Obaidullah auswendig, mit Tag und Monat. In Rekordzeit von fünf Tagen erhielt er nach einem Interview seine Aufenthaltserlaubnis. Seit August letzten Jahres macht er eine Ausbildung bei einem großen Fahrzeuglackierer in Pfungstadt mit rund 30 Mitarbeitenden. Dort fühlt er sich wohl und lernt viel. Sein Traum: ein Mercedes-Jeep. Den Führerschein hat er noch nicht – denn der ist sehr teuer. Aufregend wird es, die Prüfung zu schaffen. Er fährt gerne Fahrrad und spielt Cricket.
„Ich habe hier viel in der „umA“ gelernt. Jetzt muss ich alleine weiter gehen.“ Da er bald 21 Jahre wird, steht als nächster Schritt an, eine eigene Wohnung zu finden. Die Suche gestaltet sich jedoch schwierig. „Ich möchte gerne selbständig leben und mich selbst finanzieren“, sagt der junge Mann, „aber ich brauche auch Zeit für mich alleine – eine große WG passt nicht zu mir.“ Heiraten? In Afghanistan oft früh üblich – für ihn aber noch kein Thema. Er schätzt die Freiheit und die Gesetze in Deutschland. Seine Haltung zur Zukunft: „Niemand weiß, was kommt. Deshalb ist es wichtig, immer positiv zu denken.“
Text und Foto: Martina Noltemeier
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