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20 Jahre Pionierarbeit mit Autisten

28.09.2017 | Marlene Broeckers

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Marlene Broeckers

Texterin der NRD

20 Jahre Pionierarbeit mit Autisten

„Kennst du einen, dann kennst du einen“. Das ist ein Satz, den Andreas Münch gern benutzt, wenn er über Autisten spricht. Denn kein Autist ist wie ein anderer Autist. Der Sozialpädagoge Münch ist einer der zahlreichen Experten für Autismus in der NRD und gehört zu den Pionieren in der Betreuung und Begleitung von Autisten. Mit sechs jungen Männern und Frauen startete 1997 das erste Autistenhaus in der NRD. Es war damals das zweite spezielle Angebot für diesen Personenkreis in ganz Hessen. Zu den Pionieren, die daran mitgewirkt haben, dass die Arbeit bis heute Vorbildcharakter hat, gehören neben vielen Mitarbeitenden auch die sechs Autisten selbst, die vor 20 Jahren ins „Haus Emmaus“ am Bodelschwinghweg 4 eingezogen sind. Vier von ihnen leben bis heute dort und haben mit ihren BegleiterInnen einen guten Weg zurückgelegt.

Schon zehn Jahre vor der Eröffnung des ersten Autistenhauses – inzwischen befinden sich zwei weitere Häuser für je sechs BewohnerInnen in nächster Nachbarschaft – begannen die ersten Gespräche und Verhandlungen mit dem Kostenträger Landeswohlfahrtsverband Hessen. Eltern, zusammengeschlossen im Verein „autismus Rhein-Main“ (damals: „Hilfe für das autistische Kind“ e.V.) hatten beharrlich angeklopft und passende Angebote für ihre Kinder gefordert. Sie haben die Aufbauarbeit ideell und auch materiell massiv unterstützt. Denn in der Psychiatrie, wo sie oft landeten, waren die Kinder und jungen Erwachsenen ebenso schlecht aufgehoben wie in klassischen Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung.

Möbel fliegen im Neuland

Ein hoch motiviertes Team gut ausgebildeter PädagogInnen fand sich damals zusammen, um ein Wohn- und Betreuungskonzept für sechs Menschen mit Autismus zu erarbeiten. In dem Neuland, welches Betreuende und Betreute betraten, die sich vorher nicht oder kaum kannten, flogen nicht nur die Fetzen, sondern auch Möbelstücke und Bilderrahmen. In den ersten Wochen waren lange Schreianfälle und stundelanges Türenwerfen  ebenso an der Tagesordnung wie körperliche Angriffe auf Mitarbeitende und Selbstverletzung. Einige Mitarbeiter haben sich bald verabschiedet, die meisten blieben und sind bis heute da. Sie haben unendlich viel gelernt und geben ihr Wissen inzwischen an andere weiter.

Um den Selbstschutz der Mitarbeitenden zu gewährleisten, wurde PART (mehr dazu in unserem Blog-Beitrag) in der NRD etabliert – ein Konzept, das professionelles Handeln bei aggressivem Verhalten vermittelt. KollegInnen haben für die NRD eine Fortbildung zu Autismus konzipiert, die sich ständig weiterentwickelt und vielen Mitarbeitenden eine große Hilfe ist. Denn Menschen mit autistischen Verhaltensweisen gibt es nicht nur in den drei Autistenhäusern der NRD.

Betroffene klären auf

Parallel zu den wachsenden Erfahrungen und Erkenntnissen in Sachen Autismus in der NRD hat sich auch die Forschung in den letzten 20 Jahren massiv weiterentwickelt. Und immer mehr Betroffene treten in Erscheinung, um über das Phänomen Autismus aufzuklären. Dies sind die sogenannten Asperger-Autisten, die im Gegensatz zu den sogenannten Kanner-Autisten keine geistige Behinderung haben, sondern oft hoch begabt sind. Der Asperger-Autist Axel Brauns aus Hamburg war beim Fachtag zum 10-jährigen Bestehen der Autisten-Betreuung in der NRD 2007 zu Gast und brachte den atemlos lauschenden ZuhörerInnen in der Lazaruskirche der NRD Passagen aus seinem Buch „Buntschatten und Fledermäuse“ zu Gehör. Er las nicht aus dem Buch vor, sondern erzählte aus seinem Leben, indem er sein Buch seitenweise Wort für Wort exakt zitierte.

800.000 Autisten in Deutschland

Zum Fachtag des 20-jährigen Jubiläums wird am 10. November die promovierte Ärztin und Psychotherapeutin Christine Preißmann in der NRD zu Gast sein. Sie arbeitet in der Vitosklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Heppenheim mit drogenabhängigen Menschen und wird über ihr Leben als Asperger-Autistin berichten. Im Jahr der Eröffnung des ersten NRD-Autistenhauses 1997 wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert, da war sie bereits 27 Jahre alt. Christine Preißmann ist in Teilzeit berufstätig und widmet einiges an Zeit dem Ziel, die Öffentlichkeit über Autismus aufzuklären.

„Autisten haben dieselben Bedürfnisse wie alle anderen Menschen“, sagt Christine Preißmann in ihren Vorträgen und Interviews. Doch die Erfüllung dieser Bedürfnisse sieht für sie ganz anders aus als für „neuro-normale“ Menschen. Eine Liebesbeziehung wäre für sie so gestaltet: „Vielleicht eine Stunde am Tag zusammen sein und gemeinsam etwas Schönes erleben.“

Eine Stunde am Tag zusammen sein und gemeinsam etwas Schönes erleben – ist das ein schlechtes Modell für eine Liebesbeziehung? Wie viel Zeit sind Menschen, die sich lieben, täglich wirklich zusammen und erleben gemeinsam etwas Schönes?

Da sein dürfen

Wie entsteht Autismus? Wer so fragt, hat vielleicht auch im Sinn, den „Missstand“ zu beheben. Diese Befürchtung äußert auch Christine Preißmann. Autismus ist nicht durch „gefühlskalte Mütter“ verursacht, wie lange behauptet wurde, sondern genetisch bedingt. Es sind jedoch nicht nur ein Gen oder zwei, sondern möglicherweise mehrere hunderte Gene, die auf verschiedene Art verändert sind. Zum Glück, findet Preißmann, denn sonst würde man diese Störung pränatal schnell identifizieren und verhindern, dass diese Kinder geboren werden, genauso wie es beim Down-Syndrom geschieht.

Die Menschen, die vor 20 Jahren im Haus Emmaus eingezogen sind, haben in den ersten Monaten die Schwelle zur Terrasse nicht überschritten, um in den geschützten Garten zu gehen. Zwei Jahre nach dem Einzug fand die erste kurze Freizeit in Nidda statt. Weil das funktionierte, wurde es in den nächsten zwei Jahren wiederholt.  Im fünften Jahr fuhr die Gruppe an die Nordsee, inzwischen geht es ins Elsass und nach Belgien, wo jeweils Freizeitparks und Zoos die Highlights sind. Als Triumph empfindet Andreas Münch die Fahrt mit vier Bewohnern nach Amsterdam 2016: „Wir sind in den Hauptbahnhof eingefahren und haben die Stadt besichtigt – ohne Probleme, alle glücklich.“

Jaber Batarseh
Alexander Blase
Ulrich Wagner
 

Autisten sind reizvoll. Und offenbar auch unwiderstehlich. Sonst wären nicht so viele Mitarbeitende konstant in der Begleitung im Wohn-und Arbeitsbereich geblieben. Eine Erklärung dafür ist vielleicht, dass Autisten nicht lügen. Und dass sie, die extrem angewiesen sind auf Zuverlässigkeit und klare Strukturen, ihrerseits absolut zuverlässig und loyal sind. Wenn sie verstehen und vertrauen. Wenn sie verstanden werden.

Dirk Tritzschak, heute Regionalleiter, war damals Teamleiter, als das erste Autistenhaus  eröffnet wurde. 2007 hat er – rückblickend auf die Anfänge – einen Text geschrieben, in dem er sich selbst befragte: Was mache ich hier eigentlich? Warum tue ich mir das an? Die Antwort, die er gefunden hat: „Ich lerne! Ich lerne über mich und ich lerne von den Menschen mit Autismus, was es heißt,  konsequent ehrlich zu sein.“

Die NRD bietet am 10. November 2017 eine Fachtagung zum Thema Autismus an. Neben Vorträgen zu den Themen „Leben mit Autismus", „Angebote für Menschen mit Autismus in der Nieder-Ramstädter Diakonie“ und „Teilhabe durch Inklusion im Wohnen“ stehen sechs interessante Workshops zur Auswahl. Am späten Nachmittag endet die Veranstaltung dann mit einem Abschlussplenum.

Weitere Informationen und Anmeldung (Anmeldeschluss: 10. Oktober 2017) finden Sie hier: Fachtagung zum Thema Autismus

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