22.09.2021 | Joachim Albus
Das deutsche Volk darf einen neuen Bundestag wählen. Dieses Grundrecht ist der Kern einer jeden repräsentativen Demokratie. Wahlgewinner der besonderen Art sind diesmal diejenigen, die bis Mai 2019 überhaupt nicht wählen gehen durften: Menschen mit Behinderung mit Vollzeitbetreuung in allen Angelegenheiten.
Bei der Wahl zum 20. Deutschen
Bundestag am 26. September sind laut Statistischem Bundesamt etwa 31,2
Millionen Frauen und 29,2 Millionen Männer wahlberechtigt. Zugegeben – da
erscheint die Zahl 85.000 relativ klein. Schaut man hinter diese Zahl, wird sie
größer: So viele Menschen mit Behinderung, für die ein Gericht einen Betreuer
in allen Lebensbereichen bestellt hat, dürfen erstmals aktiv mitentscheiden,
von wem Deutschland künftig regiert wird.
Im Mai 2019 – 70 Jahre nach der Verkündigung des Grundgesetzes – hat der Deutsche Bundestag entschieden, dass „Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten“ nicht von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen. Politikwissenschaftler Arndt Leininger von der Technischen Universität Chemnitz ordnet ein: „Es wurde davon ausgegangen, dass schwerbehinderte Menschen, die unter Vormundschaft stehen, nicht über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um informiert und selbstbestimmt an der Wahl teilzunehmen. Dieses Urteil kann in dieser Pauschalität nicht Grundlage eines Wahlrechtsausschlusses für eine ganze Bevölkerungsgruppe sein, so das Bundesverfassungsgericht.“
Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, wird als demokratisches Kerngrundrecht von Artikel 38 Grundgesetz (GG) garantiert. Die Wahlrechtsausschlüsse des § 13 Nummer 2 und 3 BWahlG und § 6a EuWG waren nach Ansicht der „Lebenshilfe“ verfassungswidrig, denn sie verstießen gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Artikel 38 GG sowie Artikel 29 der UNBehindertenrechtskonvention (UNBRK) und diskriminierten Menschen mit Behinderung in rechtswidriger Weise.
Als „überfällig“ und „offensichtlich, dass es nicht gerechtfertigt und schon gar nicht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention war“, bezeichnet das Ende der Wahlausschlüsse auch Matthias Rösch, Behindertenbeauftragter des Landes Rheinland-Pfalz. „Es war eine große Benachteiligung für Menschen mit Behinderung, die eine gesetzliche Betreuung in allen Angelegenheiten haben“, hält er fest. In Rheinland-Pfalz betrifft das neue Wahlrecht 2.463 Menschen, die jetzt aktiv über die politische Zukunft mitentscheiden dürfen.
Rösch beobachtete insbesondere
in der Wahlkampf-Zeit, dass Medienunternehmen
sensibler agierten als früher. So sei etwa der SWR „viel offensiver“ mit
Untertiteln, Gebärdensprache, Übersetzungen in leichte Sprache umgegangen, habe
mehr Angebote gemacht als vorher. Auch bei den baulichen Barrierefreiheiten der
Wahllokale sieht er Fortschritte, fordert aber, dass man bald „auf die 100
Prozent“ komme. Weiteres Verbesserungspotenzial sieht der
Behindertenbeauftragte bei Schriftgröße und Kontrasten bei sämtlichen Wahlunterlagen.
„Die Schrift muss größer werden. Außerdem sollte man bei den
verschiedenfarbigen Wahlzetteln darauf achten, dass es mit dem Kontrast hinsichtlich
der Lesbarkeit gut passt!“, lauten Röschs Forderungen.
Inklusive Wahl: großer Schritt
für Menschen wie Adrian
Einer,
der darüber ebenfalls sehr glücklich ist, ist Adrian Dürsch. Der 29-Jährige lebt
in Mainz, dort im NRD-Wohnverbund in der Hegelstraße, arbeitet in der
Rheinhessen-Werkstatt in Wörrstadt. Für kurze Strecken hat Adrian Gehhilfen,
ansonsten ist er mit seinem Rollstuhl unterwegs. Ein aufgeweckter, junger Mann,
der weder lesen noch schreiben kann, er ist von Geburt an Tetraspastiker mit
einer geistigen Retardierung, hat Probleme mit der Raumlagewahrnehmung und
konnte noch nie ein Leben ohne Unterstützung führen. Er freut sich über das
inklusive Wahlrecht. Für ihn ist Wählen eine Selbstverständlichkeit: „Ich finde
es wichtig, dass ich als behinderter Mensch wählen gehen darf. Alle Menschen
mit Behinderung sollen mehr mitmachen können, in allen Bereichen des Lebens.“
Und fügt an: „Es gibt viel, was die Politik ändern kann!“
Von seinem Wahlrecht
macht er fleißig Gebrauch: Bereits bei den Landtagswahlen im März diesen Jahres
beteiligte er sich – per Briefwahl. Seine Mutter half ihm, nicht nur, indem sie
ihm den Wahlzettel vorlas. „Ich rede mit ihm über Politik. Besonders kurz vor
Wahlen schauen wir uns zum Beispiel die verschiedenen Standpunkte der einzelnen
Parteien genau an“, sagt sie. Außerdem schaut Adrian gerne und oft Nachrichten
im Fernsehen. Er wusste beispielsweise lange vor dem 26. September, dass dies eine
ganz besondere Wahl werden würde, weil die Ära Angela Merkel zu Ende ging und
Deutschland einen neuen Kanzler*in wählen würde.
Mitbestimmen für eine bessere Zukunft
Nun will Adrian mithilfe seiner
Mutter seine Partei bei den Bundestagswahlen wählen, in der Hoffnung, dass
sich die Situation für Menschen mit Behinderung weiter verbessert. Denn es gibt
noch viel zu tun. „Mainz ist eine tolle Stadt, Adrian fühlt sich dort sehr
wohl. Leider gibt es immer wieder Situationen, die ihm das Leben schwer machen“,
stellt seine Mutter fest und spricht die oftmals arg eingeschränkte
Barrierefreiheit im ÖPNV an. Um in den Bus zu kommen, muss der Fahrer
aussteigen, um die Rampe händisch aus- und wieder einzuklappen. Nicht immer
hätten die Fahrer da Lust drauf, sagt sie. „Andere Städte sind bei der
Barrierefreiheit im ÖPNV schon viel weiter“, sagt Adrians Mutter.
Den Umstand,
dass Adrian Dürsch im Rollstuhl oft angeguckt wird „wie ein Außerirdischer“, wie
er es beschreibt, kann die Politik nur bedingt beeinflussen. Hier sind
Offenheit und Akzeptanz von jedem einzelnen gefragt, Eigenschaften, die wiederum
in unserer Demokratie selbstverständlich sein sollten. Auch deswegen geht er
wählen.
Wie Adrian Dürsch haben viele Menschen mit Behinderung politisches
Interesse, möchten selbst mitbestimmen, in welche Richtung Deutschland geht.
Eine kurze Szene beim Besuch des SPD-Politikers und Mitglied des Deutschen
Bundestages Jens Zimmermann im NRD-Wohnverbund Dieburg Mitte August verdeutlicht
das: Zimmermann schaute sich gerade die neuen Häuser an, als ein Bewohner ihn
anhielt und fragte, ob er ein Politiker sei. Als Zimmermann dies bejahte, kam prompt
die Frage: „Und von welcher Partei?“ Zimmermann: „Von der SPD.“ Der Klient: „Oh.
Das ist gut.“ Zimmermann lachte und bestätigte im Nachgang, dass er wahrnimmt,
dass es „unglaublich viele Menschen mit Behinderung gibt, die nun wählen gehen.“
Weil sie es nun dürfen.
Angst
vor Missbrauch des Wahlrechts
Natürlich
gibt es die Bedenkenträger*innen. Ein Argument war stets die Angst vor Missbrauch
des Wahlrechts durch die Betreuer*innen. Dazu Politikwissenschaftler Arndt
Leininger: „Ein Missbrauch in dem Sinne, dass ein Dritter für eine andere
Person eine Stimmt abgibt und somit zweimal wählt, halte ich für sehr selten.
Dies ist theoretisch bei der Briefwahl möglich, wenn ein Haushaltsmitglied nicht
für sie oder ihn bestimmte Briefwahlunterlagen ausfüllt und abschickt oder
ein/e Pfleger*in einer/s geistig behinderten Wähler*in den Stimmzettel nicht in
dessen Sinne ausfüllt. Das mag in extrem seltenen Fällen vorkommen, kann aber
aus meiner Sicht kein Grund sein, über Einschränkungen der Briefwahl oder des
allgemeinen Wahlrechts nachzudenken.“ Womit eigentlich alles gesagt wäre.
Unser Bild zeigt Adrian Dürsch, der sich sehr über das inklusive Wahlrecht freut.
Das Wesen der Betreuung besteht darin, dass für eine volljährige Person ein Betreuer bestellt wird, der in einem genau festgelegten Umfang für sie handelt. Das Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Menschen soll dabei gewahrt bleiben, soweit dies möglich und seinem Wohl zuträglich ist. Seine Wünsche sind in diesem Rahmen beachtlich. Auch für die Tätigkeit der früheren Vormünder und Pfleger als Betreuerinnen und Betreuer beinhaltet das Betreuungsrecht viele Vorteile. Von Betreuung betroffen sind Erwachsene, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen können. Viele der Betroffenen sind alte Menschen. Quelle: Bundesamt für Justiz
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