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Multiprofessioneller Fachtag Inklusion und Justiz

08.02.2016 |  Gastautor

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Multiprofessioneller Fachtag Inklusion und Justiz

Rund 200 Interessierte aus verschiedenen Organisationen und Institutionen trafen sich im Oktober 2015 zum Fachtag „Straffälliges Verhalten bei jungen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung“ in der Darmstädter Orangerie. Der Runde Tisch Südhessen „Gewaltprävention bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und/oder Lernschwierigkeiten“ hatte zu der Fachtagung eingeladen. Fachvorträge aus Sicht der Psychiatrie, der Wissenschaft, einer Rechtsanwältin und der Polizei bestimmten den Vormittag, nachmittags wurde an Thementischen diskutiert.

Mit der Geschichte von Christoph* stimmte Anja Lehmkühler, Lehrerin an der NRD-Wichernschule in Mühltal, die Teilnehmenden auf die Thematik ein. Sie stellte Christoph* und seine „Lebenssteine“ vor. Die Steine im Rucksack standen symbolisch für die Belastungen, mit denen Christoph* zu kämpfen hat und die seinen Lebensweg prägen. Deutlich wurden die wiederkehrenden Brüche im Helfersystem und den damit einhergehenden Verschlechterungen der Lebensumstände des jungen Mannes. Er reagierte mit selbst entwickelten Lösungsstrategien wie delinquentem Verhalten, Missbrauch von Suchtmitteln etc.

Anja Lehmkühler vermittelte ein konkretes Bild von den jungen Menschen, über die in den weiteren Vorträgen gesprochen wurde. So konnte für Beschäftigte aus Polizei, Justiz und Jugendhilfe, die eher selten mit Menschen mit geistiger Behinderung konfrontiert sind, ein direkter Bezug zur der Thematik hergestellt werden.

Prof. Dr. Erik Weber, Evangelische Hochschule Darmstadt, beleuchtete „Gewalt und Gegengewalt im Leben von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung“. Er zeigte die verschiedensten Gewaltmuster auf, die sich schon allein aus der Tatsache der Behinderung ergeben. „Der reißende Strom wird gewalttätig genannt, aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig“, so ein Satz von Bertolt Brecht. Anhand dessen verdeutlichte Weber die Problematik der erlebten Gewalt vor allem in Einrichtungen der Behindertenhilfe.

Er stellte fest: „In der Regel sind bei Menschen mit geistiger Behinderung keine kriminellen Ansatzpunkte wie vorsätzliche Planung, kriminelle Energie, Arglist usw. im Spiel. Allerdings fällt es bei Menschen mit leichter geistiger Behinderung (…) schwerer, den Stellenwert von ‚Absichtlichkeit‘ oder ‚Einsichtsfähigkeit’ zu erfassen. Dies kann jedoch ernsthafte Konsequenzen in der rechtlichen Bewertung von ‚Schuldfähigkeit‘ und damit oft für die Zuweisung in Strafvollzug, Forensik oder Behindertenhilfe haben. Dieser Personenkreis spielt in der Behindertenhilfe eine zunehmend größere Rolle; und hier ist der Umgang mit den dissozialeren und heftigen Aggressionsformen deutlich schwieriger.“

Weber fasste die verschiedenen Aspekte eines lösungsorientierten Umgangs mit Gewalt zusammen. Er forderte, das Thema in die Einrichtungen und Dienste zu bringen und die eigene Rolle in Gewalt- und Machtprozessen zu reflektieren, Inklusion mit der Gewaltthematik zu verbinden und das Spannungsfeld zwischen fachwissenschaftlichen Ansprüchen wie mehr Selbstbestimmung, Inklusion und der gesellschaftlichen Wirklichkeit genau zu betrachten. Dabei gelte es auch Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung das „Nein!- Sagen“ zu erschließen.

Über behinderte Menschen im Maßregelvollzug“ sprach Walter Schmidbauer, ärztlicher Direktor der Vitoskliniken für forensische Psychiatrie Eltville und Riedstadt, der dankenswerterweise sehr kurzfristig für einen erkrankten Referenten eingesprungen war.

Schmidbauer gab einen Überblick über Rechtsgrundlagen, Organisationsstruktur, Einweisungshintergründe des Maßregelvollzugs in Deutschland. Er sprach über die strafrechtlichen Faktoren der Schuldunfähigkeit und stellte das Angebot der hessischen Forensiken dar. Er zeichnete ein deutliches Bild der Straftäter im Maßregelvollzug mit den Charakteristika der Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung.

Gleichzeitig hob er die Risiken bezogen auf die „Bürde der Diagnose“ heraus. Denn „einmal in der forensischen Psychiatrie untergebracht, verbleiben Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung etwa zwei- bis dreimal länger als der Durchschnitt“, so der ärztliche Direktor. Bezogen auf die Bedürfnisse und Ansprechbarkeit sei es erforderlich, im Maßregelvollzug bei der Behandlung dieser Patienten auch auf heilpädagogische und bildungsorientierte Bedarfe einzugehen. Eine „Herausforderung der Behandlung und Nachsorge“ sind demnach „die individuellen Faktoren der Klienten, die Inkompatibilität von Angeboten der Nachsorgelandschaft und der Bedarfsstruktur, Angst, Hilflosigkeit, fehlende Konzepte im Umgang mit gewalttätigem Verhalten.“

Eine ganz neue Perspektive eröffnete Frau Dr. Babette Tondorf, Rechtsanwältin und Strafverteidigerin für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung aus Hamburg.

Sie gewährte einen ganz pragmatischen Blick in die gelebte Praxis eines Strafverfahrens mit Beschuldigten mit geistiger Behinderung. In ihrem Vortrag skizzierte sie unterschiedliche Szenarien in einem solchen Strafverfahren und der Verteidigung. Sie zeigte den Alltag bei Gericht auf, der die besonderen Bedarfe behinderter Menschen überwiegend ausblendet.

Schon die Kontaktaufnahme und die Beziehungsgestaltung zwischen Klient und Anwalt sei mit einem deutlich höheren Zeitaufwand und besonderen Herausforderungen verbunden. Dies stellt eine große Barriere dar. Die Pflichtverteidigung muss weit mehr an persönlicher Initiative ergreifen als in einem „normalen“ Strafverfahren und sehr viel mehr Energie in die Vorbereitungen stecken. Diesem zusätzlichen Bedarf aber trägt das gegenwärtige Justiz-System in keiner Weise Rechnung und Pflichtverteidiger erhalten für ihre Mehrarbeit weder mehr Zeitvorlauf noch einen finanziellen Ausgleich.

Leitender Polizeidirektor Peter Schmidt, Hessisches Innenministerium und Polizeihauptkommissarin Gerlinde Keßler, Hessisches Bereitschaftspolizeipräsidium, berichteten über das Projekt „Polizeilicher Umgang mit Menschen mit Handicap“. Bei dem im Jahr 2010 initiierten Projekt waren die Hochschule für Polizei und Verwaltung, die Bereitschaftspolizei und die Technische Hochschule Mittelhessen mit dem Zentrum für Blinde und Sehbehinderte Studierende beteiligt.

Deutlich wurde, wie wichtig dieses Thema für die   Polizeiausbildung ist. Mit entsprechender Sensibilisierung gewinnen die angehenden PolizistInnen Selbstvertrauen sowie soziale und fachliche Kompetenz im Umgang mit Menschen mit Behinderung, so die Erfahrungen. Sehr deutlich machten die Vortragenden die Notwendigkeit von Kooperationen mit Einrichtungen in der Behindertenhilfe auch im regionalen Bereich. Im Zuge des Projektes konnten Vernetzungen, wie beispielsweise der Deutschen Blindenanstalt in Marburg, den Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt für Menschen mit Behinderung in Hainbachtal, dem Institut der Kasseler Stottertherapie, dem Verband der gehörlosen und hörgeschädigten Menschen Kassel, den Rheingauer und Kasseler Werkstätten sowie dem Antoniushaus in Hochheim getroffen werden. Sowohl Peter Schmidt als auch Gerlinde Keßler riefen die Teilnehmenden auf, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, um weitere Kooperationen einzugehen. Nur so können zukünftige PolizistInnen sich im Rahmen von Praktika mit Behinderungen auseinandersetzen und professionalisieren.

Innerhalb der Ausbildung sollen verschiedene Zielgruppen und Anlässe betrachtet werden, wie Art der Behinderung, Alter, Schuld- und Rechtsfähigkeit, die Art des polizeilichen „Kontaktes“ und Handelns im Bereich der Fortbildung, die Erarbeitung geeigneter Lehr- und Lernformate und auch die Qualifizierung von MultiplikatorInnen. „Im Fokus stehen Abbau von „Barrieren im Kopf“ und „Berührungsängsten“ und das Schaffen und Verstärken von Handlungskompetenz“, so die wertvolle Haltung der beiden Vortragenden.

Nach der Mittagspause, die für Austausch und Vernetzung genutzt wurde, leitete Dr. Wiebke Stegh (Organisationsentwicklung Prof. Dr. Ryschka,   Mainz) in die Arbeitsphase über. Anhand verschiedener Schwerpunktthemen aus dem Diskussionspapier des Runden Tisches gingen die Veranstaltungsteilnehmer in den Austausch. Unter den Oberbegriffen „Beratung, Forensik, Justiz, Wissenschaft und Lehre, Polizei, Schule sowie Wohn-/Tagesstätten diskutierten sie über die Bedarfe vor Ort und erarbeiteten hilfreiche Anregungen für die Zukunft.

Der Runde Tisch Südhessen wird sich in seinen nächsten Sitzungen mit den Ergebnissen befassen. Einige Interessenten meldeten sich für die Mitarbeit beim Runden Tisch an. Anregungen, Fragen und Ideen stoßen bei den Beteiligten des Runden Tisches immer auf offene Ohren.

Text und Fotos Christiane Klein und Tanja Tandler

 Die Kriminalbeamtin Christine Klein und die Sozialpädagogin Tanja Tandler, Fachberaterin in der NRD, haben den „Runden Tisch Südhessen“ ins Leben gerufen und den multiprofessionellen Fachtag in Darmstadt organisiert. Der „Runde Tisch“ Südhessen tritt zweimal im Jahr zusammen.

Die Koordination des Runden Tisches Südhessen „Gewaltprävention bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und/oder Lernschwierigkeiten“ liegt in den Händen von Christine Klein, Netzwerk gegen Gewalt, Regionale Geschäftsstelle Südhessen.

Kontakt:

Mail ngg.ppsh@polizei.hessen.de
06251 846866
Mobil 0173 2517816

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