29.09.2015 | Marlene Broeckers
In Nieder-Ramstadt lebte und arbeitete Ludwig Germann in der Anstaltsmühle. Unser Foto zeigt ihn als 3. von links mit weißer Schürze.
„Jetzt weiß ich alles. Aber es gibt fast niemanden mehr, der sich dafür interessiert.“ Fast zwei Stunden lang hat Peter Germann, 80, berichtet, was er über das Schicksal seines Onkels Ludwig Germann herausgefunden hat, der im Mai 1941 in der Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster im damaligen Ober-Lahn-Kreis starb. 13 Jahre hatte der Nieder-Beerbacher, der an Epilepsie litt, zuvor in der „Anstalt für Epileptische in Hessen“ gelebt, also in der späteren Nieder-Ramstädter Diakonie. Das Schicksal von Ludwig Germann interessiert, denn es steht stellvertretend für viele kranke und behinderte Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus als „unwertes Leben“ ermordet wurden.
1985 hat Peter Germann begonnen, die Dokumente zu sammeln und zu ordnen, die ihm sein Vater übergeben hatte. Vor über zehn Jahren meldete er sich in der NRD, besuchte das Mahnmal auf dem Gelände in Nieder-Ramstadt und erhielt eine Kopie jener „Transportliste“ aus dem Jahr 1938, wo der Name seines Onkels verzeichnet ist. Seither hat Peter Germann, der viel Familienforschung betreibt und an Geschichte interessiert ist, mehrere Male Goddelau besucht, wo sein Onkel drei Jahre lebte, bevor er nach Weilmünster verlegt wurde.
.Auch in Weilmünster ist Germann gewesen und hat dort schließlich das Grabfeld gefunden, in dem sein Onkel 1941 in einem Massengrab beerdigt wurde. Das war 2004. Ein Jahr zuvor war glücklicherweise der Waldfriedhof Weilmünster, der auch Anstaltsfriedhof war, neu gestaltet worden. Seitdem gibt es dort einen Plan, der die Grabfelder kennzeichnet, und Gedenksteine mit den Namen der dort bestatteten Opfer der NS-Euthanasie.
Die Ergebnisse all seiner Recherchen hat Germann mit größter Sorgfalt dokumentiert. Gesundheitliche Probleme hinderten ihn ab 2005 viele Jahre, seine Sammlung zu sortieren. Jetzt, mit 80 Jahren, ist es ihm gelungen, „alles rund“ zu machen. Voll Trauer erzählt er in seinem Haus in Bensheim den Lebensweg des Onkels:
„Unsere Familie stammt aus dem Brombachtal, lebte aber schon seit mehreren Generationen in Nieder-Beerbach, als Ludwig am 22. August 1906 geboren wurde. Er war das siebente der insgesamt zehn Kinder, von denen zwei im Kindesalter starben. Die Verhältnisse waren sehr bescheiden. Der Vater, Peter Dieter Germann, verdiente sein Geld als Tagelöhner, im Sommer war er Ziegler, im Winter Waldarbeiter.
„Für meinen aufmerksamen Schüler“
Ludwig war ein gesunder und kluger Junge. Eine geistige Behinderung hatte er nicht. Er besuchte die Schule im Ort und ist nie negativ aufgefallen. Als er elf Jahre alt war, erhielt er von Fritz Marguth, dem evangelischen Pfarrer in Nieder-Beerbach, ein besonderes Geschenk: Eine Kinderbibel aus seinem eigenen Geburtsjahr 1906. ‚Für meinen aufmerksamen Schüler Ludwig Germann‘ steht als Widmung des Pfarrers darin.
Die Kinderbibel blieb immer in unserer Familie, auch ich habe sie gern gelesen. Von einem Buchbinder habe ich sie neu binden lassen und einen schützenden Karton gebaut. Die Bibel soll an die nächsten Generationen weiter vererbt werden.
Nach der Schulzeit begann Ludwig in Nieder-Beerbach eine Lehre bei einem Schuhmacher. Um diese Zeit, mit etwa 15, wurden seine epileptischen Anfälle, die er seit dem 12. Lebensjahr hatte, schlimmer. Er konnte die Lehrzeit nicht beenden, denn auf den langen Fußwegen durch den Wald – er musste Schuhe bei den Kunden abholen und wieder zurückbringen – bekam er immer öfter seine Anfälle.
So entschieden die Eltern, ihr Kind der Anstalt in Nieder-Ramstadt anzuvertrauen. Das lag ja sehr nahe, und man dachte, dass die Ärzte ihm dort helfen könnten. Damals wusste man ja noch nicht viel über Epilepsie, und Ludwig war bislang gar nicht behandelt worden. Mein Onkel hat in der Brückenmühle gearbeitet, hier sieht man ihn mit einer weißen Schürze in einer großen Gruppe. Und hier eine Karte, die er aus Nieder-Ramstadt seinem Vater zum Geburtstag schrieb, vorne drauf ein Bibelspruch: Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herren hoffen.
„Sie lassen uns verhungern“
Die Nazizeit wurde ihm zum Verhängnis. Er gehörte zu den ersten, die aus Nieder-Ramstadt abtransportiert und in staatliche Anstalten verlegt wurden. In Goddelau haben mein Vater und ein Bruder den Ludwig mit dem Fahrrad besucht. Mein Vater hat den Satz nie vergessen, den Ludwig damals sagte: ‚Wir bekommen kaum etwas zu essen. Die lassen uns systematisch verhungern‘.
Die Forschung geht heute von rund 300.000 Opfern der NS-Euthanasie in ganz Europa aus, die Zahlen aus Osteuropa gelten jedoch als nicht verlässlich. Die Erfassung, Deportation und Tötung von Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten war die erste zentral organisierte und systematische Massenvernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten. Aus der früheren „Anstalt für Epileptische in Hessen“, 1936 in „Nieder-Ramstädter Heime“ umbenannt, wurden ab 1938 fast alle der 600 Menschen deportiert und ermordet, die damals dort gelebt hatten.
Am 19. April 1941 wurde mein Onkel nach Weilmünster verlegt. Das heutige LWV-Klinikum diente damals als „Zwischenanstalt“ für die Tötungsanstalt Hadamar. Hier lebte er keine vier Wochen mehr. Die Familie erhielt eine Mitteilung des Ortsbürgermeisters mit Datum 15. Mai 1941, darin stand, dass Georg Ludwig Germann verstorben und am 15. Mai um 11 Uhr beigesetzt worden sei. In Weilmünster war den Angehörigen ‚aus Gründen der Reichsverteidigung‘ verboten worden, ihre Familienmitglieder zu besuchen. Jetzt verhinderten sie auch noch, dass jemand zur Beerdigung fahren konnte.
Eine Todesursache wurde nicht angegeben. Man weiß ja, dass die Menschen in den extrem überbelegten und unhygienischen Anstalten verhungert sind. Sie waren auf dem Weg in die Gaskammer von Hadamar, warum sollte man sie also noch versorgen? Auch mein Onkel war schon für Hadamar gelistet. Nur dieser letzte Weg ist ihm erspart geblieben.“
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