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Offen sein für Fremdes: Inklusive Nachbarschaften auf dem Prüfstand

02.05.2022 | Katrin Baginski

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Katrin Baginski

Katrin Baginski arbeitet als Pressereferentin und Texterin für die NRD.

Offen sein für Fremdes: Inklusive Nachbarschaften auf dem Prüfstand

Unter Nachbarn gibt es hin und wieder Konflikte oder Streitigkeiten. Wie verhält es sich, wenn nebenan Menschen wohnen, die ein besonders auffälliges Verhalten zeigen? Ein Streifzug durch die Erfahrungen der NRD.

Seit über zehn Jahren arbeitet die NRD an der Dezentralisierung ihrer Wohnangebote. Bis auf einige wenige Ausnahmen sind alle Großkomplexe inzwischen durch kleine, individuelle Wohnhäuser mit maximal 16 Plätzen ersetzt. Über 1.200 Menschen mit ganz unterschiedlichem Unterstützungsbedarf leben heute in Wohngebieten in Städten und Dörfern – oder ganz zentral in den Innenstädten.

Christoph Mohn und Martin Michel, Leiter im Bereich Teilhabe Hessen, sind sich bewusst, dass das Tür-an-Tür-Leben sehr unterschiedlicher Menschen Herausforderungen mit sich bringt: „Der Arbeitsalltag unserer Mitarbeitenden findet heute stärker unter den Augen der Öffentlichkeit statt. Wenn es früher in einem Wohnheim laut wurde oder sich jemand auf andere Weise auffällig verhalten hat, störte das höchstens die Mitbewohner*innen. Das ist heute anders“, macht Christoph Mohn deutlich. Für die Klient*innen bedeutet der Schritt raus aus den bekannten Abläufen eines Wohnheims oder der Familie etwas völlig Neues. Sie können Wünsche und Bedürfnisse anders gestalten und müssen sich stärker mit der Privatsphäre anderer auseinandersetzen. Für die Anwohner*innen verändert sich das gewohnte Bild der Nachbarschaft. Das fällt nicht allen leicht.

Die Erfahrungen der NRD sind so unterschiedlich wie die Nachbarschaften auch. An manchen Standorten haben sich die Prozesse und Kontakte gut eingespielt, die Klient*innen sind in das städtische Leben integriert, gemeinsame Aktivitäten gehören dazu. In anderen Fällen tun sich die Anwohner*innen schwerer, sie fühlen sich durch das herausfordernde Verhalten gestört oder meiden den Kontakt. Häufige Konfliktthemen sind Lärmbelästigung oder Handlungen, die auf das eigene Grundstück übergehen. „Damit ein gutes Miteinander gelingt, braucht es Zeit, Offenheit und eine gute Begleitung“, stellt Martin Michel fest. „Nachbarschaftliche Prozesse sind überall ein Geben und Nehmen. Wir nehmen die Ängste und Sorgen von Nachbarn ernst, müssen aber auch aufzeigen, wo Grenzen sind“, bestätigt sein Kollege Christoph Mohn.

Klar ist: Bei allen individuell ausgelegten Wohnangeboten muss das Thema Nachbarschaft von Anfang an intensiv mitgedacht werden. Quartiersarbeit ist inzwischen ein zentraler Bestandteil von Inklusion. Dass das nicht ohne entsprechendes Know-how und Ressourcen geht, ist beiden bewusst. Bei dem geplanten Wohnprojekt der NRD in Gernsheim soll ein Quartiersmanager bereits von Anfang an eingebunden werden. Es ist das erste Gemeinschaftswohnprojekt, das die NRD realisiert. Auch die Zusammenarbeit mit inklusiven Wohnungsbaugesellschaften wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

 
 

Ganz schön laut: „Junge Wilde“ in Lampertheim

„Probleme mit der Nachbarschaft hat es bei uns schon immer gegeben“, erzählt Wohnverbundsleiterin Sonja Freitag. In Lampertheim leben 16 junge Frauen und Männer in drei Häusern im Zentrum der Kleinstadt. Sie sind recht fit und eher selbstständig unterwegs. Die „jungen Wilden“, wie sie dort genannt werden, können ihre Kräfte nicht so gut einschätzen, sie sind gerne mal lauter und drücken sich dann auch etwas deftiger aus – wie manche jungen Menschen in diesem Alter. Abends trifft man sich im Hof, auch in den Wohnungen geht es mitunter lebhaft zu. Die Nachbarn fühlen sich dann in ihrer Ruhe gestört.

Im Sommer wird der Innenhof gern für gemeinsame Aktivitäten genutzt.
Im Sommer wird der Innenhof gern für gemeinsame Aktivitäten genutzt.

„Nachbarschaften, wie wir sie kennen, sind bei unseren Klient*innen nicht möglich.
Dafür aber auf eine andere Art und Weise“.

Den direkten Kontakt suchen

Für die Nachbarn liegt die Zuständigkeit bei der NRD. Da die Klient*innen in einer Einrichtung leben, muss sich diese auch um solche Probleme kümmern. Mit dem Ideen- und Beschwerdemanagement bietet die NRD eine Anlaufstelle für solche Thematiken an. Auch die Anwohner*innen in Lampertheim hatten diesen Weg gewählt. In gemeinsamen Gesprächen wurde überlegt, wie sich die Situation verbessern lassen könnte. So wurden Lärmschutzmaßnahmen vereinbart, um die durch die bauliche Situation gegebenen Bedingungen zu verbessern. Auch die Nachtbereitschaft wurde zeitlich angepasst, um Klient*innen und Mitarbeitende noch mehr für die Nachtruhe zu sensibilisieren. Sonja Freitag und dem Team vor Ort ist es ein großes Anliegen, dass die Anwohner*innen die Klient*innen bei Problemen direkt ansprechen. „Die Klient*innen brauchen ein direktes Feedback, sonst können sie damit nichts anfangen. Bei einem Gespräch bekommen alle auch ein besseres Bild von der Lebenssituation des anderen. Es sind ja alles erwachsene Menschen.“

Gemeinsame Erlebnisse schaffen Vertrauen

Durch die Corona-Pandemie ist die nachbarschaftliche Situation wieder schwieriger geworden. Wenn alle häufiger zuhause sind, bietet das auch Konflikten mehr Zündstoff. Sonja Freitag hofft darauf, dass bald wieder mehr Aktivitäten und Begegnungen stattfinden können und dadurch das Verständnis füreinander wächst. So wie es vor Corona in kleinen Schritten begonnen hatte – etwa beim sommerlichen Kunst- und Hofflohmarkt, bei dem die Klient*innen den Lampertheimern bei selbstgemachten Cocktails Einblicke in ihr Lebensumfeld boten.

 
 

Auffallend anders: Intensives Leben mitten im Dorf

Einige der in der historischen Hofreite in Ueberau lebenden Menschen können auf andere sehr befremdlich wirken. „Viele unserer Klient*innen besitzen eine hohe Emotionalität. Sie können sehr impulsiv reagieren oder zeigen bei großer Nervosität für uns ungewohnte Handlungen. Etwa, dass jemand anfängt, sich selbst zu schlagen oder unvermittelte Bewegungen macht“, schildert Sabine Seibel, Leiterin des Wohnverbunds Ober-Ramstadt, die Situation. „Findet das beim Bäcker oder beim Spaziergang im Dorf statt, braucht es manchmal Erklärungen.“

Ruhe und feste Rituale

Das Team in Ueberau hatte sich von Anfang an auf diese Situation eingestellt. Bereits vor dem Einzug in die Hofreite wurden die Anwohner*innen zum Gespräch eingeladen, bei dem sich die „neuen Nachbarn“ vorstellten und Fragen beantworteten. Die Nachbarn sind auch bei anderen Veranstaltungen dabei, wie dem Tag der offenen Tür oder dem offenen Advent. Viele kommen gerne und freuen sich über den Austausch. Sabine Seibel ist überzeugt, dass sich der frühe Kontakt zu den Anwohnern gelohnt hat. Auch wenn sie rückblickend feststellt, dass zu Beginn nicht viel Zeit blieb für die Nachbarschaftspflege und Vernetzung im Ort. Das Einfinden in das neue Zuhause stand im Vordergrund und hat Zeit gebraucht.

„Wir waren der erste NRD-Standort mit Intensivbetreuung, der den Wechsel in den Sozialraum gewagt hat“, macht sie deutlich. Heute weiß sie, dass die Entscheidung richtig war. Die Klient*innen finden in dem großen Anwesen ausreichend Rückzug und die Überschaubarkeit des Ortes bietet den passenden Rahmen an Aktivitäten.

Neue Möglichkeiten sich zu engagieren

Der Kontakt mit den Nachbarn hat schöne Seiten, bringt aber auch Herausforderungen für die Mitarbeitenden im Arbeitsalltag. Schwierig wird es dann, wenn Menschen ihre festgelegte Haltung nicht hinterfragen wollen. Das kennt auch das Team von Sabine Seibel. „Manchmal ändern daran auch gemeinsame Gespräche nichts.“ Im Ort spielt das Gemeinschaftsleben eine große Rolle. Man kennt sich. Die Klient*innen sind gern gesehene Gäste in der Kirche. Spaziergänge zur Eisdiele und zum Bäcker sind feste Rituale. Damit sich die Klient*innen noch mehr am Dorfleben beteiligen können, braucht das Team durch den hohen Betreuungsbedarf zusätzliche Unterstützung – hier können ehrenamtliche Angebote und Mitwirkung seitens der Anwohner für alle eine wertvolle Bereicherung sein.

Blick auf die Hofreite in Ueberau.

„Konflikte kann man nicht präventiv planen. Man kann nie wissen, wie sich jemand in einer neuen Lebensumgebung verhalten wird.“

 
 

Nachbarschaft heißt...

Hilfe in der Not: Beim Wohnungsbrand in Auerbach lernten die Bewohner*innen ihre Nachbarn von einer ganz anderen Seite kennen: Ohne Zögern bekamen sie eine Notunterkunft und wurden mit allem Nötigen versorgt.

Spontane Treffen und feste Rituale: Wenn Klient*innen oder Anwohner*innen ganz selbstverständlich zum Kaffee einladen, sind private Einblicke inklusive. Oder: Gemeinsam Mittagessen gehen – wie die Damen einer Zwingenberger Seniorenresidenz, die regelmäßig einige Klient*innen des gegenüberliegenden Wohnstandorts mitnehmen.

Gelebte Vielfalt: Mitten im Geschehen wohnen und dazugehören – wie Klient*innen in Offenbach über dem REWE in der Innenstadt oder in Darmstadt im Stadtteil Bessungen.

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