Wenn Sie hier klicken, erlauben Sie die Anzeige des Spendenbuttons. Datenschutzinformationen

Hier bist du in Sicherheit

14.04.2016 | Marlene Broeckers

Autor

$author

Marlene Broeckers

Texterin der NRD

Hier bist du in Sicherheit

10 Uhr vormittags in der Wohngruppe 3 im Bodelschwinghweg 5, Nieder-Ramstadt. Laute Popmusik schallt durch den langen Flur. „Frau Hensler* hört Musik“, erklärt Teamleiterin Martina Wendel, „sie hat eben getanzt. Das mag sie sehr. Aber die Musik muss laut sein“. Caroline Hensler* steht mitten in ihrem großen, relativ karg eingerichteten Zimmer. Entspannte Haltung, freundlicher Blick. Sie hat eine schwere Zeit hinter sich. Jetzt geht es ihr gut: Sie schläft jede Nacht im ‚Safespace‘ – das ist ein geschützter Raum, der ihr Sicherheit gibt. „Für uns ist es wie ein Wunder“, sagt Martina Wendel.

 Der ‚Safespace‘ ist ein blaues, vier Quadratmeter großes Zelt und wurde in England entwickelt für Menschen, die in einem besonderen Maße eine geschützte und schützende Umgebung brauchen. Zum Beispiel für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, die durch innere oder äußere Reize in großen Stress geraten. Man kann den ‚Safespace‘ als eine zeitgemäßen Ergänzung des „Time-out-Raumes“ – früher „Toberaum“ genannt - betrachten, der in vielen Einrichtungen und Kliniken genutzt wird, um (auto)-aggressive Personen zeitweise so unterzubringen, dass sie zur Ruhe kommen und weder sich selbst, noch andere in Gefahr bringen.

Im Ausnahmezustand

In einem Zustand großer Unruhe und Angst befand sich Caroline Hensler im zweiten Halbjahr 2015. Mitte Juli geriet die junge Frau, die in der Wohngruppe zusammen mit sieben weiteren Menschen mit intensivem Betreuungsbedarf lebt, scheinbar aus heiterem Himmel in einen Ausnahmezustand. Sie war extrem unruhig, äußerte sich durch lautes Schreien, warf mit Gegenständen, schlug ihren Kopf gegen die Wand und verlangte danach, in ihrem Bett fixiert zu werden.

Caroline Hensel spricht nicht, versteht aber, was man zu ihr sagt und kann – wenn es ihr gut geht – durch Mimik, Gesten und Handlungen deutlich machen, was sie will. Wenn es ihr schlecht geht, kann sie das kaum oder gar nicht. Die Mitarbeitenden sind dann darauf angewiesen, alle möglichen Alternativen auszuprobieren, in der Hoffnung, dass irgendein Angebot die Klientin erreicht, damit sie sich beruhigt und es ihr besser geht.

Das Team der Wohngruppe Boh 3 hat in der Begleitung von Caroline Hensler im vergangenen Jahr Unglaubliches geleistet und alle nur denkbaren Register gezogen, um der jungen Frau zu helfen. „Nicht wieder in die Psychiatrie“, das war der Vorsatz, den das für Caroline eigens gebildete Unterstützungsteam fasste und auch mit externer fachlicher Unterstützung und zusätzlicher Finanzierung durch den kostenträger LWV umzusetzen versuchte. Alle MitbewohnerInnen und Mitarbeitenden litten Wochen und Monate unter Carolines lauten Schreien, das oft im ganzen Haus und auch draußen zu hören war.

Zeitweise Beruhigung wurde dadurch erreicht, dass man Caroline auf eigenen Wunsch in ihrem Bett fixierte und Sitzwachen organisierte, damit die Klientin nicht allein bleiben und sich hilflos fühlen musste. Doch schließlich kam es doch zur Einweisung in die psychiatrische Abteilung der Johannes-Diakonie Mosbach. Dort hatte man Caroline Hensler bereits früher erfolgreich behandelt und ihre Medikation neu eingestellt, so dass sie danach über Monate hinweg besser fühlte.  

Mit vereinten Kräften

Sechs Wochen war sie in der Psychiatrie, bevor sie Anfang Januar wieder von vertrauten Mitarbeitern abgeholt und nach Hause gebracht wurde. Das Unterstützungsteam hatte sich intensiv auf den Empfang vorbereitet und in wöchentlichen Treffen überlegt: „Was muss passieren, bevor Caroline wieder zurückkommt?“

Martina Wendel berichtet von einer „ganz tollen Zusammenarbeit“: Es wurden verschiedene Pläne für die Betreuung erarbeitet. Fachberaterin Kathrin Benz besuchte Carolines Mutter und brachte wichtige biographische Einzelheiten in Erfahrung, die noch nicht bekannt waren. Ein Teil des Teams erarbeitete einen Ideenpool, wie man Caroline in ihre Sicherheit zurückbringen kann, wenn sie unter Spannung gerät. Dazu gehören bestimmte Berührungen,   laute Musik, schnelles gemeinsames Laufen, nach draußen gehen.

Wichtig für das Team war die Unterstützung durch die Vorgesetzte Annemarie Bolender, die vorher in der Krise fast täglich hereingeschaut und auch Sitzwachen übernommen hatte. Sehr hilfreich war die Zusammenarbeit mit Gernot Fretter vom Suchthilfe-Zentrum der Caritas Darmstadt. Er ist Experte für herausforderndes Verhalten und Trauma.  

Spannungen frühzeitig abbauen

Dass Caroline Henlser im Kindesalter Erfahrungen mit Gewalt und sexuellem Missbrauch gemacht hat, gilt aufgrund früherer ärztlicher Untersuchungen und auch nach Beobachtungen durch Mitarbeitende als sicher. „Gernot Fretter hat uns erklärt, dass sie durch verschiedenste Anlässe einen „flashback“ erleben kann, d.h. dass sie innerlich in die Situationen zurückversetzt wird, in denen sie misshandelt oder missbraucht wurde und den Zustand von damals nacherlebt – mit der Angst, der   Hilflosigkeit und den Schmerzen, die sie erlitten hat, ohne je darüber sprechen zu können. Der Rat des Fachmanns ist hier, die Klientin abzulenken, da sie ja keine Möglichkeit hat, sich selbst aus ihrem Zustand zu befreien. Wichtig sei es auch, den Spannungszustand der Klientin genau zu beobachten, schon bei ersten Anzeichen von wachsender Spannung aktiv zu werden und vom Auslöser der Störung abzulenken.

Ein neues Angebot für Caroline Hensler ist seit ihrer Rückkehr aus der Psychiatrie der ‚Safespace‘. Der Raum, in dem das schützende Zelt aufgebaut ist, ist immer geöffnet, so dass Caroline jederzeit hineingehen kann. Sie selbst und auch die MitbewohnerInnen haben es sehr schnell verstanden, dass der ‚Safespace‘ jetzt Caroline „gehört“.  

Martina Wendel berichtet, wie sie Caroline mit dem Zelt vertraut gemacht hat. „Am ersten Abend habe ich sie eingeladen, ihr im ‚Safespace‘ eine Geschichte vorzulesen. Wir setzten uns auf die Matratze am Boden, den bisher einzigen Einrichtungsgegenstand. Am zweiten Abend brachte Caroline zum Vorlesen ihr Bettzeug mit hinüber und es war deutlich, dass sie im Zelt übernachten wollte. Das tut sie bis jetzt regelmäßig, und sie hat auch einige ihrer liebsten Dinge hinübergebracht. Sie schläft in dem offenen Zelt die ganze Nacht vollkommen ruhig und wacht entspannt auf.“

Wie lange das „Wunder“ wirksam bleiben wird, kann niemand sagen. Aber alle sind heilfroh, dass die schwere Krise überwunden wurde und dass dank des ‚Safespace‘   jetzt vor Ort ein Hilfsmittel zu Verfügung steht, das funktioniert.

Einmal erst diente das Zelt im Akutfall als rettende Lösung, wie Martina Wendel berichtet: „Caroline geriet sichtbar unter Spannung, ich konnte aber den Anlass nicht erkennen und wählte die Notfall-Nummer im Elisabethenstift, die uns zur Verfügung steht. Vorher brachte ich Caroline in den ‚Safespace‘, machte die Tür mit dem Reißverschluss zu, klappte den Sichtschutz eines Fensters hoch, so dass wir uns sehen konnte und erklärte ihr, dass sie in Sicherheit ist, während ich telefonieren müsse. Als ich nach fünf Minuten das Gespräch beendet hatte, kam Caroline vollkommen beruhigt aus dem Zelt heraus. Es war einfach wundervoll. Einen solchen Verlauf gab es noch nie. Wir sind sehr gespannt, wie es weitergeht und werden unsere Erfahrungen dokumentieren. Denn es gibt in der NRD einige Teams, die von dem ‚Safespace‘ ebenfalls profitieren könnten.

*Name geändert

Zimmer auf der BOH 3

Die   Wohngruppe Boh 3 ist der Wohnort für acht Menschen mit Behinderung – die letzten im früheren „Männerhaus“ auf dem NRD-Gelände in Nieder-Ramstadt, in dem einst über 200 Männer untergebracht waren. Vor dem Beginn der Regionalisierung waren es noch 90 Personen, die in gemischten Gruppen und größtenteils in Mehrbettzimmern im Haus Bodelschwingh“, kurz Boh-Haus genannt, wohnten. Die Gruppe wird im Herbst 2017 in neue Häuser auf dem „Sonnenhof“-Gelände der NRD in Nieder-Ramstadt umziehen.

0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar zu dieser Seite

Antwort auf:  Direkt auf das Thema antworten

Jetzt Spenden

Menschen mit Behinderung brauchen Ihre Hilfe!

 
  • Inklusion ...

    .... bedeutet Menschenrecht. Für den Bedarf von Menschen mit Lernschwierigkeiten heißt das zum Beispiel: Das Recht auf gut verständliche Sprache, Informationen und Texte im Sinne von "leichter Sprache". 

    Inklusion ...
    André Schade,
    Übersetzer für leichte Sprache, Zentrum für selbstbestimmtes Leben (ZsL), Mainz
Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie

© Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie
Bodelschwinghweg 5  -  64367 Mühltal  -  Tel.: (06151) 149-0  -  Fax: (06151) 144117  -  E-Mail: info@nrd.de

Datenschutzhinweis

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Bei Cookies unserer Partner (z. B. Altruja für Spenden) können Sie selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen. Datenschutzinformationen