02.06.2022 | Joachim Albus
Es ist eine Gruppe, die uns als Gesellschaft fordert. Eine Klientel, der sich die NRD bereits seit langer Zeit widmet: Systemsprenger – Menschen mit sehr herausfordernden Verhaltensweisen. Der Begriff ist sehr umstritten, da er impliziert, der Mensch sei das Problem. Dabei sind es die Hilfesysteme, die dieser Herausforderung oft hilflos gegenüberstehen.
"Es gehört zum
Selbstverständnis der NRD, dass sie diese Menschen schon immer unterstützt hat“,
sagt Dirk Tritzschak, Leitung Teilhabe NRD. „Es ist uns wichtig, auch
sogenannten Systemsprengern Angebote machen zu können. Dazu müssen wir uns aber
an einigen Stellen weiterentwickeln.“
Aktuell unterstützt die Nieder-Ramstädter
Diakonie in der Teilhabe geschätzt zehn Menschen, deren Verhalten laut Dirk Tritzschak
„derart herausfordernd ist, dass wir manchmal nicht weiterwissen.“ Seinen Schätzungen zufolge stehen
bestimmt zweimal so viele Systemsprenger vor der Tür und möchten aufgenommen werden
– Tendenz steigend. Die Crux: Die räumlichen, strukturellen und personellen Bedingungen,
die die NRD in der Eingliederungshilfe aktuell bietet, haben sich zwar in den
vergangenen Jahren schon wesentlich verbessert, sind aber im Einzelfall noch
nicht ausreichend, um diesem Personenkreis ein Angebot machen zu können.
Veränderungen müssen dringend her.
Umstrittener Begriff
Der Begriff des
Systemsprengers erreichte durch den gleichnamigen, preisgekrönten Film von 2019
deutschlandweite Bekanntheit: Ein neunjähriges Mädchen, titelgebende
Systemsprengerin, durchläuft einen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien,
Aufenthalten in der Psychiatrie und Heimen.
Prof. Dr. Menno Baumann, der zu
Intensivpädagogik, Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an
der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf lehrt, ist nicht nur Autor des Buches „Kinder,
die Systeme sprengen: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern“
(2010). Er beriet damals auch die Macher des Films beim Drehbuch. Im Gespräch
mit der „NRD bewegt“ sagt er, er benutze den umstrittenen Ausdruck zwar.
Gleichzeitig warnt er: „Der Begriff ist schwierig, weil er ein Stück weit den Schwarzen
Peter auf das Kind schiebt. Letztlich handelt es sich um Kinder, die in einer
negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem stecken und aktiv durch ihr
Verhalten dazu beitragen.“ Wichtig sei immer der Systembezug. „Es gibt kein Kind,
das aufgrund einer Persönlichkeitseigenschaft und aufgrund seines Verhaltens automatisch
ein Systemsprenger wäre. Es bedarf immer eines Systems, das gleichzeitig
miteskaliert.“ Alternativ redet der Intensivpädagoge von „riskant agierenden
Kindern und Jugendlichen“ oder „Kindern und Jugendlichen mit massiv störenden
Verhaltensweisen“ oder von „den vom System Gesprengten“.
Eingliederungshilfe
vor neuen Aufgaben
Organisationen wie die überregionale Vitos-Teilhabe, der
Internationale Bund (IB), die Behindertenhilfe Offenbach und die Stiftung
Nieder-Ramstädter Diakonie kümmern sich in Südhessen um diese Klientel. Im letzten Fachtag
zur Intensivbetreuung kurz vor Ausbruch der Corona- Pandemie verabredeten diese
Träger, zusammen mit dem Leistungsträger LWV (Landeswohlfahrtsverband) ein
südhessisches Netzwerk zur Intensivbetreuung aufzubauen, um gemeinsam
Verantwortung für Menschen zu übernehmen, denen bisher noch kein Angebot
gemacht werden konnte.
„Alles in allem“, sagt NRD-Teilhabe- Leiter Dirk Tritzschak, „ist Südhessen hier nicht schlecht aufgestellt, aber die Herausforderungen nehmen zu. Wir stellen fest, dass auch Traumatisierungen zunehmen – eine neue Aufgabe für die Eingliederungshilfe. Das ist vielleicht ein gesellschaftliches Phänomen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die Erlebnisse gemacht haben, die sie auch wegen eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeit nicht ansprechen können. Die Folgen können herausfordernde Verhaltensweisen aus Überforderung sein.“
Deutschlandweit gibt es Expertenschätzungen zufolge zwischen 8.000 und 13.000
Systemsprenger. Experte Menno Baumann findet „diese Zählversuche schwierig,
weil sie immer davon ausgehen, es gehe um Menschen und nicht um Prozesse.“
Fachleute gehen davon aus, dass 17,5 Prozent der Jugendhilfe- Klientel
Systemsprenger sind. Baumann: „Wir haben in einer Untersuchung festgestellt: Die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Einrichtung des pädagogischen Systems innerhalb
von zwei Jahren einen Prozess erlebt, in dem sie aufgrund des schwierigen Verhaltens
nicht in der Lage sein wird, das Betreuungsangebot aufrechtzuerhalten, liegt in
etwa bei 14 Prozent.“ Rechnet man nach, kommt man auf eine vergleichbare Zahl.
Forderung nach fallorientiertem Herangehen
Wenn es das System ist, das
nicht adäquat auf schwierige Menschen reagiert – versagen also unser Bildungs-
und Schulsystem, das der Psychiatrie und Psychotherapie, die Jugendhilfe, die
Sozialämter und die Behindertenhilfe? „Wenn das System einfach versagen würde,
wäre es wundervoll, weil man es dann leicht verändern könnte“, sagt Menno
Baumann augenzwinkernd. „Was wir brauchen, ist ein grundlegend anderes, ein
wirklich pädagogisches Fallverstehen und eine andere Form der Diagnostik.
Aktuell haben wir Maßnahmen, in die das Kind eingegliedert wird.“ Baumann
fordert, vom Einzelfall her zu denken: Was braucht dieser junge Mensch und wie
könne man sich ihm mit pädagogisch-psychologischer Unterstützung nähern? „Es
wäre wichtig, am Fall orientierte, individuelle Maßnahmen zu ergreifen –
kriteriengestützt und nicht von der Frage ausgehend, was man schon alles probiert
hat.“
Dirk Tritzschak von der NRD, der ebenso wie Baumann davor warnt, man
dürfe bei der Verwendung des Begriffes Systemsprenger „nicht den Eindruck
erwecken, als sei der Mensch das Problem“, fragt: „Welche Rahmenbedingungen
können wir diesen Menschen künftig bieten, dass wir alle gut miteinander leben
können?“ Seine Forderung: „Wir brauchen noch kleinteiligere und individuellere
Angebote im Wohnen und in der Tagesstruktur.“
Aktuell verbringt diese Zielgruppe
auch in den neuen Wohnformen der NRD ihren Alltag mit drei, vier anderen
Menschen – was schon gut ist. Aber für manche Klient*innen ist es überfordernd,
jeden Morgen mit drei, vier anderen Menschen zu frühstücken, die sie vielleicht
gar nicht besonders mögen. Erst recht, wenn einer ein Verhalten zeigt, das
immens stört. Dirk Tritzschak: „Ich persönlich kann mir in so einem Fall
durchaus vorstellen, dass ich die Geduld verliere und ein unangemessenes
Verhalten zeige. Insbesondere, wenn ich mich nicht ausdrücken kann. Von außen
wird dann schnell gesagt: Dieser Mensch ist herausfordernd. Ich würde sagen:
Die gesamte Situation war so herausfordernd.“
Die NRD hat gute Erfahrungen
damit gemacht, jemandem zeitweise ein individuelles Angebot machen zu können. „Manchmal
ist es besser, wenn diese Menschen für eine bestimmte Zeit eine eigene Wohnung
haben“, sagt Dirk Tritzschak. Und wiederholt seinen Wunsch: „Hier brauchen wir
in Zukunft wesentlich mehr kleinteilige und individuell gestaltbare Wohnangebote.“
Gute Teams
Intensivbetreuende Standorte
brauchen erstklassige Teams. „Für Heilerziehungspfleger* innen und
Pädagog*innen haben wir hier besondere Aufgaben – besonders herausfordernde,
aber auch besonders lohnende“, sagt Dirk Tritzschak. „In der Intensivbetreuung
ist jeder Tag anders. Flexibilität und Know-how sind gefragt. Menschen, die
hier arbeiten, brauchen Geduld und Einfühlungsvermögen. Dafür zählen unsere
Intensivteams aber auch oft zu denen mit dem besten Zusammenhalt in der ganzen
NRD. Und zu denen, in denen man am meisten lernen kann“.
Für ihn ist klar: „Eigentlich müssten die Jobs in der Intensivbetreuung zu den begehrtesten in der ganzen NRD zählen.“ Weil das aktuell aber nicht so ist, geht er in der Teilhabe jetzt in die Offensive: „Da gibt es merkwürdige Vorurteile und deshalb hat die Intensivbetreuung noch nicht das Image, das sie verdient. Aber: Wir arbeiten dran!“
Der Film "Systemsprenger"
Zum Kinostart in Deutschland zählte „Systemsprenger“ über 43.000 Zuschauer nach dem ersten Wochenende. Bis Ende 2019 verzeichnete der Film über 632.000 Besucher, womit er Platz 41 der erfolgreichsten Kinofilme des Jahres einnahm und zur siebterfolgreichsten deutschen Produktion wurde. Die deutsche Erstausstrahlung am 17. Mai 2021 im ZDF sahen 5,06 Millionen Zuschauer.
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