18.09.2015 | Marlene Broeckers
Von ihrem Schreibtisch kann Petra Grunewald
direkt auf die Marienkirche schauen, das Gotteshaus der katholischen
Kirchengemeinde St. Marien mitten in Offenbach. „Ich war noch nicht drinnen,
aber die Glocken haben einen schönen Klang“, sagt die Sozialpädadogin, die den
neu eröffneten „Wohnverbund Mathildenstraße“ in Offenbach leitet. Sieben Wohnungen in unterschiedlicher Größe
hat die NRD in dem großen Neubau-Komplex erworben, der im zentralen Mathildenviertel
auf einem ehemaligen Brachgelände errichtet wurde. Im Erdgeschoss gibt es einen
Supermarkt, darunter eine Tiefgarage, und darüber in fünf Geschossen 47
Wohnungen für „Weltbürger“, unter ihnen auch einige NRD’ler.
Ein
generationsübergreifendes und multikulturelles Quartier zu schaffen – das war
die Intention des Bauträgers, der jede
der Wohnungen mit den Namen internationaler Großstädte versehen hat. London, Berlin, Rom Venedig, Istanbul und
Marrakesh heißen die NRD-Wohnungen, die
auf unterschiedlichen Etagen gelegen sind und insgesamt 17 Menschen mit
Behinderung einen Platz bieten.
Sechs
Personen sind seit Mai eingezogen, überwiegend junge Erwachsene, die bislang
noch zu Hause gelebt und mit dem Umzug einen großen Entwicklungsschritt eingeleitet
haben: Unabhängiger von der Familie ihr eigenes Leben zu gestalten, mehr
Selbstbestimmung zu wagen und zugleich auch zu genießen. Dazu gehört auch:
Vieles selbst tun, Neues lernen, Verantwortung übernehmen und Rücksicht üben
gegenüber den Mitmenschen – seien dies Wohngenossen, Mitarbeitende oder
Menschen auf der Straße, im Bus oder Supermarkt.
Viele neue Wege und Ziele
„Gut dass
die Wohnplätze nach und nach belegt werden und nicht alle gleichzeitig“, sagt
Petra Grunewald, „denn jeder, der neu ankommt, braucht Zeit und Aufmerksamkeit.“
Die Stimmung in der Gerberstraße 16 ist insgesamt sehr gut, auch wenn noch nicht alles perfekt ist. WG-Mitglieder und Mitarbeitende lernen einander allmählich kennen lernen und entwickeln gemeinsam einen Alltag. Viele neue Wege und Ziele gibt es in Offenbach und Umgebung zu erkunden. Zur Arbeit in die Werkstatt oder Tagesförderstätte der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Hainbachtal geht es mit dem Bus, für den Einkauf gibt es den Supermarkt im Haus. Zu Fuß geht es in die Innenstadt und zum nahe gelegenen Mainufer, mit dem Bus ins Schwimmbad oder mit dem Zug zum Frankfurter Flughafen. „Es ist schon toll, wie viel Lebensqualität das Wohnen hier bietet“, sagt Petra Grunewald.
Alltag leben, die Stadt erobern, Chaos und Konflikte bewältigen – so antwortet Teamleiterin Sarah Brich auf die Frage, welche Überschrift das 1. Kapitel im neuen Buch „Die NRD in Offenbach“ tragen könnte. „Man muss eben alles erst herausfinden, das ist jetzt dran. Es ist eine enorme Herausforderung, aber auch toll. Genau die Aufgabe, die ich gesucht habe“, sagt die Teamleiterin, die ein Bachelor-Studium in Integrativer Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt absolviert und danach ihren Magister in Sonder- und Integrationspädagogik in Erfurt gemacht hat.
Aufsuchende Assistenz
Der Reiz liegt darin, ein neues Angebot der NRD mit aufzubauen. Dieser Wunsch beflügelt auch die übrigen Team-Mitglieder, sechs an der Zahl Anfang August. „Das Team ist klasse“, sagt Sarah Brich, „wir arbeiten Hand in Hand und stehen zusammen“.
Eine gute Idee war es, dass die jeweilige Nachtbereitschaft immer die ersten Nächte in der Wohnung verbringt, wo gerade jemand neu eingezogen ist. Das gibt den BewohnerInnen Sicherheit und die Mitarbeitenden bekommen schneller ein Gefühl dafür, wo vielleicht ein Problem auftauchen könnte.
Das Dienstzimmer mit dem Bett für die Nachtbereitschaft ist ein kleines Apartment und liegt im 2. Stock, mehr oder weniger weit entfernt von den sechs Wohnungen, die künftig in aufsuchender Assistenz versorgt werden. Bewusst hat die NRD nicht alle Wohnungen nebeneinander in derselben Etage erworben. Es sollte keinen „NRD-Flügel“ im Haus Gerberstraße 16 geben, sondern ganz normales Wohnen mit bedarfsgerechter Unterstützung.
René Balz öffnet uns die Tür zur künftigen Sechser-WG, die jetzt im August erst mit halber Besatzung existiert. Freudig zeigt er sein Zimmer, das Bad mit den orangen Fliesen, das Wohnzimmer und die große Küche. Beide Gemeinschaftsräume sind zum breiten Flur hin offen. Die Zimmer der BewohnerInnen sind unterschiedlich geschnitten und alle mit Parkettboden ausgelegt. Das sieht wohnlich und auch richtig schick aus.
Liebesbrief nach Mühltal
Am Küchentisch sitzt René Balz auf einem orangefarbenen Stuhl und schreibt einen Brief an seine Freundin. Alle seine Stifte hat er zu diesem Zweck ordentlich aufgereiht. Jeder Buchstabe seines Briefs bekommt eine andere Farbe, darunter malt er ein Haus, blaue Wolken und eine dicke Sonne. „Am Mittwoch hat sie mich hier besucht, sie wohnt ja noch in der NRD in Mühltal“, berichtet René Balz.
Ein großes Flipchart steht in der Küchenecke, darauf sind alle Dinge notiert, die für den neuen Haushalt angeschafft werden müssen. Fast alles ist schon erledigt und durchgestrichen, nur Kleinigkeiten wie die „Eieruhr zum Zähneputzen für WG 3“ fehlen noch.
„Übrigens bin ich gerade Onkel geworden“, berichtet René Balz. Anfang 2014 ist der gebürtige Berliner in das Haus Arche der NRD Mühltal eingezogen. Seine Option war, in Dreieich einzuziehen, sobald das dortige Wohnprojekt bezugsfertig ist. Dass Offenbach noch früher fertig werden wurde, freute seine Schwester, die in Offenbach lebt und ihren Bruder gern in der Nähe haben wollte.
René Balz freut sich. Alles ist neu – und dann auch noch ein Baby, das er oft besuchen kann. „Ein Rad habe ich auch“, berichtet er, „aber ich muss noch üben, um im Verkehr ganz sicher zu sein“. Da ist er bei Petra Grunewald richtig, die selbst begeisterte Radfahrerin ist. Sie hat mit Jörg Knapp* Kappenstein aus der 3er-WG im 2. Stock schon eine Radtour gemacht: „52 Kilometer, wir fahren fast in Seligenstadt. Jörg Knapp ist totaler Fahrradfan, verfolgt die Tour-de-France, und wird, wenn es so weiter geht, da irgendwann auch mitfahren“, lacht sie.
Alle, die daran mitgewirkt haben – einschließlich der Freunde, Förderer und Spender - können stolz sein auf das neue Wohnprojekt der NRD in Offenbach. Alle Voraussetzungen für mehr Teilhabe, Selbstbestimmung und Integration sind hier erfüllt; die Wohnungen sind funktional und schön zugleich. Der Komplex mit Balkons, Terrassen und Gärten bekommt zur hofseitig im nächsten Jahr noch einen kleinen, öffentlichen Park mit Spielplatz. Dort kann man sitzen und den Glocken der Marienkirche lauschen: Es sind die schwersten und tontiefsten Glocken im Bistum Mainz.
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